In Paris treffen sich Mediziner,
Verhaltensforscher, Psychologen und Neurologen
zur ersten internationalen Gähnkonferenz.
Denn nach 30 Jahren Forschung ist noch immer
nicht ganz klar: Was ist der Grund für das
seltsame Verhalten?
Seinen wichtigsten Patienten trifft Olivier
Walusinski im Sommer 1978: Ein
dreißigjähriger Mann kommt in seine
Praxis und bittet um Hilfe. Bei einem
rätselhaften Leiden: Er gähnt einmal
pro Minute. Eine verzweifelte Situation, denn
der Patient wagt sich kaum noch unter Leute, hat
Probleme beim Essen, Sprechen und Arbeiten.
Walusinski ist ratlos. So einen Patienten hat
der Allgemeinmediziner in der französischen
Kleinstadt Brou, rund 70 Kilometer
nordöstlich von Le Mans, noch nie
behandelt. Er sucht in der Fachliteratur nach
ähnlichen Fällen, ohne Erfolg. Er
fragt im Kollegenkreis &endash; keiner kennt
vergleichbare Krankheitsbilder.
Er wendet sich schließlich an die
Universitätsklinik in Paris, und dort
bestätigt ihm der Chefarzt der Neurologie,
dass es zum Gähnen keine wissenschaftliche
Literatur gibt. Einzelne Aufsätze zwar,
Gedankenspiele, aber kaum empirisches Material.
Ist das Gähnen zu langweilig für die
Forschung? Kann es sein, dass eine der banalsten
Funktionen des menschlichen Körpers dem
Interesse der Wissenschaft entgangen ist? Eine
Viertelmillion Mal gähnt der Mensch im
Laufe seines Lebens, und vor Walusinskis
Recherche hat sich offenbar kein Forscher je
gefragt, warum?
Ein Mal Gähnen bringt nicht mehr
Sauerstoff
Heute, mehr als 30 Jahre später,
zählt Walusinski zu den führenden
Experten der Gähnforschung. Er hat
über historische Interpretationen von
Hippokrates bis Descartes geschrieben, auf die
sehr reale Gefahr des Kieferausrenkens
hingewiesen und die Biochemie des Gähnens
analysiert und außerdem mehr als 1000
Texte zum Thema gesichtet und ins Internet
gestellt. Vor wenigen Wochen erschien
außerdem der erste Sammelband zum
Gähnen (The Mystery of Yawning")
&endash; herausgegeben von Walusinski, der jetzt
immerhin zwei Ursachen wüsste, die seinen
einstigen Patienten leiden ließen. Und am
kommenden Donnerstag eröffnet der Mediziner
nun die Erste Internationale Konferenz zum
Gähnen". Sie vor allem soll dem
Schattenfach endlich eine breitere
Aufmerksamkeit bescheren. Psychologen,
Hirnforscher, Zoologen und Mediziner treffen
sich in Paris, um aktuelle Studienergebnisse zu
diskutieren und vielversprechende
Erklärungsansätze zu identifizieren.
Wir müssen endlich damit beginnen,
interdisziplinär zu arbeiten", sagt
Walusinski, bislang ist keinem Teilbereich
der Durchbruch gelungen." Selbst nach drei
Jahrzehnten durchaus fruchtbarer Forschung ist
völlig unklar: Was ist der Grund für
das seltsame Verhalten?
Populäre Erklärungsmodelle sind
längst entkräftet, etwa die Hypothese,
Gähnen versorge das Gehirn mit
zusätzlichem Sauerstoff. Das wurde bereits
1987 von dem amerikanischen Psychologen Robert
Provine widerlegt. Rückblickend kann
man kaum noch verstehen, wie sich dieser Glaube
so weit durchsetzen konnte", sagt Adrian
Guggisberg, denn selbst medizinische Laien
verstehen sofort, dass ein einziger tiefer
Atemzug die Sauerstoffversorgung des Hirns kaum
beeinflusst." Der Schweizer Neurologe stellt in
Paris eine Meta-Analyse physiologischer Studien
vor &endash; mit vernichtendem Urteil. Kaum eine
These der Forscherszene hält der
wissenschaftlichen Überprüfung stand.
Sein Fazit: Wir müssen zurück
auf Null gehen."
Nicht nur der Mensch macht den Mund weit
auf
Dabei hat die Forschung tonnenweise
empirisches Material angehäuft. In Roms
U-Bahnen etwa zählten Wissenschaftler
Gähner und notierten ihr Geschlecht.
Ergebnis: Frauen und Männer gähnen
etwa gleich viel, nämlich acht Mal am Tag
fünf bis zehn Sekunden lang. Kampffischen
setzte man Attrappen in Form von Artgenossen vor
(die wurden aggressiv angegähnt).
Menschliche Föten wurden per Ultraschall
beim Gähnen beobachtet: Sie gähnen
etwa dreimal so häufig wie Erwachsene.
Schön und gut, was aber fehlt ist die
Theorie, die all die vielfältigen
Beobachtungen zusammenhält. Und die
Widersprüche erklärt, die alle naslang
sichtbar werden: Es überfällt uns vor
dem Schlafengehen, aber ebenso nach dem
Aufwachen. Wir gähnen bei Hunger, aber auch
nach dem Essen. Bei Müdigkeit wie bei
Stress. Fallschirmspringer etwa gähnen kurz
vor dem Absprung, Olympioniken direkt vor dem
Startschuss, Erstklässler, wenn sie Lesen
und Schreiben lernen. Und nicht nur der Mensch
gähnt: Nahezu alle Wirbeltiere tun es, an
Land, im Wasser, in der Luft &endash; Katzen,
Ratten, Krokodile, Vögel, ja selbst Fische.
Tiere gähnen sogar nach einem ganz
ähnlichen Muster wie der Mensch. Es scheint
ein universeller Code zu sein, der viele
Millionen Jahre Evolution überlebt hat.
Alle gähnen", sagt Guggisberg,
aber keiner weiß, warum."
Ein gewaltiger Kraftakt für die
motorischen Fähigkeiten
Dabei belegen gerade die Ungeborenen, welche
Bedeutung das Gähnen für den Menschen
haben muss. Bereits mit 14 Wochen gähnen
und strecken sich Föten &endash; ein
gewaltiger Kraftakt für die Winzlinge.
Sie wiegen gerade 50 Gramm", sagt
Walusinski, da ist so ein Energieverlust
nur sinnvoll, wenn ihm ein großer Nutzen
gegenübersteht." Zudem tauche das
Gähnen etwa gleichzeitig mit dem Saugreflex
auf, ist es auch ähnlich
überlebenswichtig? Olivier Walusinski
vermutet, dass ein Ausbleiben auf eine
Fehlentwicklung hinweisen könnte, der
kleine Körper durchs Gähnen und
Strecken seine motorischen Fähigkeiten
testet und diese weiterentwickelt. Wie tief
verwurzelt das Gähnen ist, hat der Franzose
bei querschnittsgelähmten Patienten
beobachtet, die ihre Arme und Beine nicht mehr
willentlich bewegen können. Selbst beim
Lachen, Niesen oder Husten reagieren die
Extremitäten nicht, wohl aber beim
Gähnen. Für Neurowissenschaftler ist
das ein Beweis dafür, dass es vom Stammhirn
gesteuert wird.
Doch am Computertomographen leuchtet nicht
nur dieser älteste Teil des Gehirns auf,
wenn Testpersonen gähnen. Andere Regionen
werden ebenfalls aktiv, und Studien liefern
widersprüchliche Ergebnisse:
Diskussionsstoff für Paris. Zumindest
belegen die Aufnahmen, dass es ganz
unterschiedliche Arten gibt: Die Experten
unterscheiden zwischen dem spontanen
Gähnen, das uns aus dem Nichts heraus oder
bei Müdigkeit überfällt, und dem
sozialen Gähnen. Dieses überkommt uns,
wenn wir andere Personen dabei beobachten. 55
Prozent aller Menschen folgen diesem Verhalten
innerhalb von fünf Minuten, und sie
reagieren nicht nur auf den visuellen Reiz: Es
genügt, das typische Geräusch zu
hören. Selbst das wiederholte Lesen des
Wortes, ja sogar der Gedanke ans Gähnen
macht uns anfällig: Jeder zweite Leser
dieses Artikels wird in den kommenden Minuten
gähnen &endash; garantiert. Gähnen ist
ansteckender als jede Krankheit, wie ein Reflex,
der aber keiner ist.
Einfühlsame Menschen lassen sich am
häufigsten mitreißen
Neuropsychologen formulieren deshalb die
These, Gähnen sei vor allem ein sozialer
Akt, eine Art nonverbale Kommunikation. Aus dem
Tierreich gibt es dafür zahlreiche
Hinweise. Löwen etwa gähnen kurz vor
dem Aufbruch zur gemeinsamen Jagd. Herdentiere
koordinieren so vermutlich ihre Ruhezeiten. Und
Affen demonstrieren durchs ausgiebige
Gähnen ihren Status; kein Lebewesen
gähnt so viel wie das dominante
Männchen kurz vor dem Sex. Wie der Mensch,
so stecken sich auch andere Primaten, etwa
Schimpansen, untereinander beim Gähnen an.
Für Biologen ist das ein Beleg für
ihre hochentwickelten geistigen und sozialen
Fähigkeiten. Ähnliches leistet sonst
nur das am stärksten auf den Mensch
ausgerichtete Tier, der Hund. Dieser ist zwar
immun gegen das Gähnen seiner Artgenossen.
Gähnt jedoch sein Besitzer, lässt er
sich in 70 Prozent aller Fälle anstecken
&endash; viel eher als ein Mitmensch.
Hirnforscher haben außerdem
nachgewiesen, dass beim ansteckenden Gähnen
die Spiegelneuronen aktiv sind. Einfühlsame
Menschen sind besonders anfällig, und
Familienmitglieder reagieren stärker als
Fremde. Empathie macht uns zu sozialen
Mitgähnern. Gestützt wird diese These
durch Versuche des japanischen Neurologen Atushi
Senju. Er stellte fest, dass sich Autisten vom
Gähnen nicht anstecken lassen. Auch
Schizophrene scheinen größtenteils
immun. Wie sehr diese Art der Infektion sozial
geprägt ist, zeigt auch die Tatsache, dass
sich Kinder erst mit vier bis fünf Jahren
anstecken zu lassen. Erst dann sind
Selbstwahrnehmung und
Einfühlungsvermögen ausreichend
entwickelt.`
Macht Gähnen müde oder
munter?
Während die soziale Funktion also in
ersten Ansätzen belegt ist, sieht die
Beweislage für das spontane Gähnen
deutlich schlechter aus. Erwiesen ist nur ein
Zusammenhang mit der Müdigkeit. Danach
beginnt der Streit: Macht uns Gähnen
müde? Oder ist es ganz im Gegenteil ein
Versuch des Körpers, uns zu reaktivieren?
Erklärt sich so das Gähnen der
Fallschirmspringer, als Reaktion auf den Wechsel
zwischen Stress- und Ruhephasen? Dieser
Aufweck-These fehlt bislang allerdings die
empirische Basis. Herzfrequenz und Hautspannung
steigen dabei jedenfalls nicht an.
Auch die aktuellste Erklärung steht
kurz vor dem Aus. Die amerikanischen Psychologen
Gordon und Andrew Gallup vermuten, Gähnen
kühle das Gehirn. In Paris wird ihre
Annahme wohl einigen Widerstand ernten. Erste
Tests zeigen nämlich, dass die Temperatur
im Hirn konstant bleibt, ganz gleich ob man
gähnt oder nicht. Forscher wie der
Schweizer Adrian Guggisberg halten es daher
für möglich, dass es ein rein sozialer
Akt sein könnte ohne physiologischen Grund.
Auch soziale Funktionen können so
wichtig sein, dass sie im Lauf der Evolution
Bestand haben." Beobachtungen von Ethnologen
scheinen das zu bestätigen: Fast alle
Kulturen der Welt erachten das Gähnen als
so wichtig, dass spezielle Regeln entwickelt
wurden, meist mit einem Tabu: Gähnen gilt
als unhöflich, als ein Zeichen von
Desinteresse. Insofern könnte die
Gallup-Erklärung doch von Bedeutung sein,
Vater und Sohn liefern nebenbei ein Rezept gegen
ungewolltes Gähnen. Wer einen drohenden
Anfall stoppen will, sollte sich Kühlpads
gegen die Stirn pressen. Schön ist auch
dieser Anblick nicht, aber immerhin wirkt das
Verhalten nicht ansteckend.
Literatur: Olivier Walusinski (Hrsg.),
The Mystery of Yawning in Physiology and
Disease", Karger Verlag, Basel 2010.
First International Conference on Yawning,
24. bis 25. Juni 2010, Hôpital de La
Salpêtrière, Paris.