Es muB befremden, daB der im Titel genannte,
bald behaglich bald peinlich empfundene Vorgang,
von dem kaum ein Sterblicher ausgeschlössen
ist, der bereits im Säuglingsalter zu
beginnen und dem Senium eine besonders treue
Bundesgenossenschaft zu halten pflegt, der unter
den Saugetieren weit verbreitet und den Vogeln
nicht fremd ist, von unserer Literatur
verhältnisrmäBig stiefmutterlich
behandeit ist. Man kann ganze Reihen von
Zeitschriften, dickleibige Lehrwerke durchiesen,
ohne eine einschlägige Abhandlung, eine
flüchtige Notiz zu erspahen. Wenn ich auch
dem nur wenige Jahre zuruckliegenden Anspruch,
daB wir bislang im wesentlichen nur über
laienhafte Beschreibungen des Vorgangs verfugt,
nach Durchackerung eines guten Stucks Literatur
nicht you beizutreten vermag, so ist doch
unverkennbar, daB eine wissenschaftliche
Erforschung nach ersten, auf Jahrzehnte
blickenden Anfangen, nach völligem
Schweigen während des Krieges erst in der
Nachrevolutionszeit, insbesondere seitens
findiger Nervenarzte unter Berichtigung so
mancher irrtümlichen Deutung eingesetzt
hat. Immerhin hat die klinische Beobachtung
trotz der verhältnismäBig
spärlichen Berichte längst auch noch
heute gültige Ergebnisse geliefert.
Wenn die Redaktion dieser Zeitschrift mir
die Aufgabe gestellt hat, mich im Sinne der
Fassung des Themas im Umfang von einigen
Spalten. Zu äuBern, so bedarf es keiner
besonderen Begründung, warum ich mich in
diesem "Organ fur praktische Medizin" auf eine
ins Tiefe gehende Problematik, so verlockend sie
auch auf dem Boden wertvoller ErschlieBungen und
sinniger Betrachtungen, kaum einlassen kann.
Dies um so weniger, als die Autoren selbst der
spekulativen Erörterung einen weiten
Spielraum gewährt und einen nicht
spärilchen Betrag des Unsicheren und
ungenügend Erforschten vertreten haben. Und
doch ist in das bisher so dichte Dunkel ein
erfreuliches MaB von Licht getragen worden. Es
lohnt sich eine Berichterstattung. Sie soil
eigener Zutat nicht entbehren.
Ich glaube eine Schilderung des in seinen
groben Grundzugen schon dem blöden Laien
geläufigen Gähnakts und seine Deutung
um deswillen voranschicken zu sollen, weil die
Definitionen und Urteile der verschiedenen
Autoren zum Teil unvollständig und nicht
widerspruchsfrei sind. Wir verstehen unter
Gähnen (oscitare, hiare) eine eigenartige,
in mancher Richtung dem Husten, Niesen, Lachen,
Seufzen, Schluchzen nahestehende komplizierte
Atembewegung, bestehend in einer langsamen,
tiefen, meist akustisch wahrnehmbaren
Inspiration bei weit offenem Munde (tonischem
Krampf der Kieferöffner) und einer
kürzeren, desgleichen vorwiegend
tönenden Exspiration. Nur scheinbar ist der
Widerspruch, daB em nordischer Verfasser eines
groBen Lehrbuchs der Physiologie die Einatmung
bei "weit offener Stirnrnritze" vor sich gehen
läBt, während von einem erfahrenen
Neurologen die "verengte Glottis" vertreten
wird. Es gibt eben ein lautes und leises
Gähnen. Mit der genannten Tätigkeit
pflegt eine starke Hebung des Gaurnensegels und
ein mit Erweiterung der Nasenlöcher
einhergehender Tonus der Gesichtsmuskehn, der
sich bis zur Tränensekretion und
entsprechendem AbfluB durch die Nase steigern
kann, verbunden zu sein. AuBerdem wird starkes
Gähnen unter Umständen von einem
expansiven, sich auf Glieder und Rumpf
erstreckenden Dehnen begleitet. Temperamentvolle
hemmungslose Naturen werfen wohl auch bei
intensivern Gähnen die Arme empor und
ballen die Fäuste, während der
"Wohlerzogene" die Mitbewegungen zu bremsen und
die Mundsperre durch die vorgehaltene Hand den
Blicken zu verbergen oder uberhaupt zu
unterdrücken sucht letzteres freilich mit
leidigem Verzicht auf das Lustgefühl bei
ungestörtem Ablauf und selbst unter Meldung
einer Unlust, wie sie der willkürlichen und
unwillkürlichen (Schreck!) Unterbrechung
des Vorgangs eigen ist.
Mit Recht ist in neuerer Zeit das beregte,
übrigens schon vor langen Jahren
erwähnte, besonders bei Tieren zu
beobachtende allgemeine Sichstrecken und
Sichrecken als mit dem Gähnen eng
verwandte, gleichfalls tonische
Parallelerscheinung mit dem Bindeglied der
tiefen Inspiration in den Vordergrund geruckt
worden; bezüglich derHaufigkeit der
Kombination wohl etwas zu weitgehend: Wer viele
Gähner beobachtet, muB zum Schlusse kommen,
daB beim Löwenanteil der Akt sich auf die
oben bezeichneten Gebiete beschränkt und
eine Begleitung von allgemeinem Sichdehnen mit
mehr oder weniger wohligern Gefuhl mehr zu den
Ausnahmen als zur Regel zählt. Man lasse
auch nicht auBer acht, dad ungezählte
Individuen sich unter den verschiedensten
Bedingungen recken und räkeln, ohne zu
gähnen. Da darf der Zusammenhang nicht als
obligater allzu sehr unterstrichen werden. Das
tut aber der immer mehr in Geltung tretenden
Deutung des Gähnens als em auf Gesicht,
Rachen, Kehikopf und Brustkorb reduziertes
Sichrecken, das der Muskeierschlaffung
entgegenwirkt ("frische Ladung der motorischen
Neurone") keinen Abbruch tinter der
Voraussetzung, daB die tiefe Inspiration weder
Zweck ist noch dem Sauerstoffbedürfnis
entspringt, sondern seine Entstehung der
inspiratorischen Feststellung des Brustkorbes
verdankt.
Die vorstehenden Erörterungen begrunden
genugsam, daB das Gähnen entgegen so
mancher, selbst ärztlicher Vorstellung, ein
komplizirter automatischer Bewegungsvorgang ist
und für den zentrifugalen Weg eine
Fülle von Nerven in Tätigkeit zu
treten vermag. Von einer sicheren Erforschung
der zentripetalen Erregung kann keine Rede sein.
Ist doch nicht emmal die notwendige Existenz
eines Gähnzentrums (bzw. Reckzentrums)
erwiesen. Hat sich der Glaube an das Kleinhirn
lange Zeit erhalten, so hat die geltende Lehre
von der Verwandtschaft mit dem Lachen, Weinen
und sonstigen mimischen Automatismen zwar nicht
mit der Unkenntnis des Zentrums aufgeraumt, aber
die Vermutung, daB als Sitz des als Automatismus
subkortikal zustandekommenden Aktes das GroBhirn
Und speziell das Corpus striatum in Betracht
kommt, zur nicht abwegigen gesterpeit. Mit gutem
Grunde ist sogar der in einerm Falle von
Gehirnkrankheit beobachtete Ausfall des
Gähnens mit verwandten Automatismen nach
einem Stadium entsprechenden Reizerscheinungen
als fast zwingender Hinweis auf diese
Lokahsation verwertet worden.
So wenig das Gähnen als Symptom
besonderer Zustände und die speziellen
Mechanismen endgultig erforscht sind, es fehlt
nicht an Festlegungen, von denen immerhin em
annehmbarer Teil in den Dienst der klinischen
Diagnostik gestellt werden kann. Vom praktischen
Standpunkt empfiehlt es sich durchaus, an der
Eintellung in physiologische und pathologische
Zustände festzuhalten, obzwar eine
scharfeTrennung für die allerhäufigste
und bekannteste Ursache, die Ermüdung oder
richtiger Mudigkeit, also Schläfrigkeit
ohne obligate vorgängige Anstrengung nicht
durchführbar ist. Uberflüssig demnach,
zu begründen, daB die Hochfrequenz auf den
Abend bzw. die Zeit vor dem Schlafengehen
fällt, was befremdlicherweise nicht
ausschheBt, daB nicht wenige Gesunde auch am
Morgen nach ausreichendem Schlafe und seibst
Aufnahme der geistigen Arbeit erglebig und
behaglich gähnen; ein Paradoxon, für
das ich eine willkürliche Hypothese als
Erklärung nicht wagen mächte.
Kunstlicher Schlaf durch Hypnotika steigert die
Neigung zum Gähnen offenbar nicht
wesentlich. Ich darf hier einer
eigentümlichen Beobachtung, die ich
nirgends in der Literatur vorgefunden und zuerst
an der eigenen Person gemacht, gedenken. Nach
frühem Aufstehen und reichlicher
Muskelbewegung am Tage durch Wandern, Radfahren
usw. meldet sich mit fast unfehlbarer Sicherheit
nach dem Abendessen, auch ohne vorherige
spontane Neigung, beim eigenen Vorlesen ein
imperöser Drang zum hartnäckigen
Gähnen, gleichgültig ob der Inhalt der
Lektüre anregt oder kalt läBt, sehr
wenig zu meiner Freude wie der der Zuhörer
trotz möglichster Unterdrückung der
Störung. Ein gleiches ist mir hier und da
von anderer Seite, auch von Jüngeren
berichtet worden. Ich vermag mir den Vorgang
nicht anders auszulegen, als daB durch die
Muskeltätigkeit der Stimmbildung der Reflex
für den Gähnakt ausgelöst
wird.
Dem Gähnen infolge Müdigkeit
gliedert sich as mit bemerkenswerter
Häufigkeit durch Langeweile, also das
peinliche Empfinden des zögernden
Zeitablaufs herbeigeführte an. Auch hier
als Ursache eine Untätigkeit, Lahmlegung
des GroBhirns verantwortlich gemacht werden, und
mit Recht sind wir belehrt worden, daB ein
Entgegarbeiten, Sichwehren des Organismus gegen
die Herabsetzung des Muskeltonus, des
Stoffwechsels und der Zirkulation als Folge des
Reizmangels sich auswirkt.
Schwer verständlich, aber vielleicht in
gleichsinniger Richtung erklärbar ist die
nicht seltene Herbeiführung des
Gähnens durch Hunger. Mangelhafte
Durchblutung des Gehirns?
In gewissem Gegensatz zu solchen
Zusammenhangen berührt die nicht zu
leugnende Tatsache der Verursachung des
Gähnaktes durch gespannte Aufmerksamkeit.
Ich wüBte keine befriedigende Deutung. Ein
mir bekannter Professor, nicht schlechter
Redner, füllte gewohnheitsmäBig die
meisten kurzen Zwischensatzpausen bei seinen
Vortragen durch mehr oder weniger mangelhaft
unterdrücktes Gähnen aus. Ein
seltsamer oratorischer Schmuck! Hier mag auch
die mir von zuverlässiger Seite
erwähnte hervorragende Gähnneigung
kleiner Kinder bei ihrer Vorführung
Erwähnung finden.
Höheres Interesse für den Arzt
beanspruchen die pathologischen Zustände.
Auch sie können als somatische wie
psychische in Wirksamkeit treten; die ersteren,
wenn man auf weitere Einteilungen Wert legt, als
organische Krankheiten des Gehirns sowie als das
Organ betreffende, funktionelle Störungen
bedingenden Prozesse. Unter jenen dürfte
nach MaBgabe der - sehr zerstreuten - Literatur
im Verein mit eigener Beobachtung die Apoplexie
obenan stehen und zwar sowohl im Stadium der
Vorboten des Insults wie in der Periode der
Reaktion als Zeichen des zurückkehrenden
BewuBtseins, wenn der apathische Kranke wieder
auf Fragen wenn auch unklare Antworten gibt.
Doch kann hier die Häufigkeit des
Gähnens ebenso wenig als regelmäBig
gelten, wie bei der Encephalitis lethargica, der
Bulbärparalyse der Paralysis agitans, der
Meningitis und den Hirntumoren - hervorgehoben
wird auch hier die Lokalisation in der hinteren
Schädelgrube, besonders im Cerebellum und
im verlängerten Mark -, endlich der
Epilepsie. Für Lltztere zählt die
freilich nur zeitweilige Erscheinung zu den
Aurasymptomen ("bereitstehender Entladungs
mechanismus").
Die Rolle des pathologischen Gähnens
als Herdsymptom muB als fraglich angesprochen
werden.
Für alle (lie vorgenannten Gruppen ist
der Mangel an systematischen, auf das Vorkommen
des Gähnens als Symptom unter bestimmten
Bedingungen gerichteten Beobachtungen
beklagenswert. Es tut not, diese empfindliche,
vorwiegend durch Nichtbeachtung der Erscheinung
überhaupt verschuldete Lücke
auszufüllen. Ich selbst kann mich von
diesem Vorwurf, hingesehen auf ein
jahrzehntelang zur Verfügung stehendes
Material nicht freisprechen. Bevor wir nicht
über eine umfassende, zielbewuBt
beobachtete klinische Kasuistik gebieten, ist es
um eine annehmbare Aufstellung stichhaltiger
Lehrsätze schlecht bestellt. Ich
argwöhne, daB das pathologische Gähnen
sich viel häufiger findet, als die
vorliegenden Berichte vermuten lassen. Es fehlt
eben an der nötigen Direktive.
Innerhalb der an zweiter Steile genannten
Gruppe verdienen die anäm ischen
Zustände zumal nach abundanten Blutungen,
die Ohnmacht und die Kachexie herausgehoben zu
werden. Hier steht naturlich die
ätiologische Rolle der schlechten
Durchblutung des Gehirns auf festerem Boden.
Vielleicht zählt hierher auch das
zweifellos nicht seltene hartnäckige
Gähnen bei langerem Aufenthalt in
verdorbener Luft (überfüllten
Wirtshäusern, Theatern, Sitzungssälen
usw.). Der früher als Ursache so allgemein
vertretene Sauerstoffmangel bzw. das gesteigerte
Atembedürfnis mit der Folge des Erstrebens
einer Regulierung des Gaswechsels im Blut und
Behebung des Nachlasses der Vis cordis kann ob
der Ablehnung einer Abhängigkeit der tiefen
Inspiration von einem Sauerstoffbedürfnis
(s. o.) in dieser Fassung nicht mehr aufrecht
gehalten werden. Schwer einzureihen ist das sich
bei systematischer Befragung des Patienten als
ziemlich haufig herausstellende zähe, zum
Teil in die Kategorie der psychischen
Zustände hineinspielende Gähnen am
Schlusse schwerer neuralgischer Anfalle,
besonders der Migräne - hier auch
gelegentlich als Vorläufer bzw.
Initialsymptom - und der Kardialgie, weiterhin
in den frühen Stadien des Morphinismus
sowie bei Nervenschwächlingen
überhaupt, nicht minder beim Kranken der
weiblichen Geschiechtsorgane und im Verlauf,
besonders im Beginn verschiedener Infektions
krankheiten. Beachtenswert, daB im Bereich der
letzteren von anerkannter Seite die Erscheinung
mit einer günstigen Prognose versehen
wordden ist, insofern sie den Trägern
schwerer Grade mit direkter Lebensbedrohung und
zumal Sterbenden abgesprochen wird. Im
übrigen lautet das Urteil uber die
prognostische Bedeutung des Gähnens
uberhaupt recht verschieden.
Die pathologischen psychische n
Zustände anlangend, beherrscht der trotz
seiner relativen Seltenheit in der Literatur
hervorragend gewürdigte, mit dem Nies-,
Lach-, Wein-, Husten-, Schluchzund
Rülpskrampf Berührungsflächen
teilende Gähnkrampf der Hysterischen
(Chasmus, Oscedo) die Lage. Wer ihn gesehen,
wird ihn nie vergessen: Das ohne ersichtlichen
AnlaB oder nach einer körperlichen wie
heftigen Gemütserregung mit und ohne
Müdigkeitsgefühl erfolgende Einsetzen
einer Reihe mehr oder weniger eng aneinander
anschlieBender, langer und tiefer, machtlos
bekämpfter Gähnakte, die begleitende
Nackenstarre, den TränenfluB bei
krampfhaftem AugenschluB, die Beklemmung und
Angstgefühle. Im Schlaf und während
reichlichen Essens schweigt die Störung.
Wenn für eine etwa vierteistündige
Dauer des Anfalls durchschnittlich sechs
Einzelakte angegeben werden, so muB ich freilich
bemerken, daB ich gelegentlich auch bei Gesunden
oder doch nicht ernstlich Kranken annähernd
die gleiche Zahl ohne Anfallscharakter
beobachtet habe. Das Bezeichnende bei den
Oscedo-Opfern pflegt eben weniger die Frequenz
als das Paroxystische im Verein mit der hohen
Intensität und Dauer des einzelnen schweren
Vorgangs (bis 30 Sekunden und mehr) zu
sein.
Welche ungeheuerliche Ausschreitungen aber
möglich sind, zeigt u. a. der vielzitierte
Charcotsche Fall. Die junge Hysterika
gähnte in der schlimmsten Zeit fast den
ganzen Tag, in der Stunde bis zu 500 mal, so daB
zeitweise die Störung das normale Atmen
ersetzen muBte. Nicht ohne guten Grund wird
für den hervorragend mit dem Begriffe der
Suggestion rechnenden Gähnkrampf ein
besonders locker sitzender Automatismus, die
Auslösung schwerer Entladungen durch
geringfügige Impulse, eine abnorm leichte
Umsetzung von Vorstellungen in somatische
Vorgänge verantwortlich gemacht.
Anklänge an die Anfälle findet man
übrigens hier und da bei Neurasthenikern,
Psychopathen und Psychasthenikern. Bedauerlich,
daB man über das Gähnen dieser
Träger der pathologischen Signatur der
Neuzeit ErschlieBungen selbst in speziellen
neurologischen lehrbuchmäBigen
Bearbeitungen fast völlg vermiBt. Auch
bezüglich des Verhaltens bei
Geisteskranken, über das ich aus eigener
Erfahrung nichts Verwertbares zu berichten weiB,
ist die Sehnsucht nach der Bekanntgabe
einschlägiger Erfahrungen auf breiter Basis
wohlbegründet.
Endlich kann an der allgemein bekannten
Tatsache der Auslösung des Gähnakts
durch den Anblick Gähnender nicht
vorübergegangen werden: "Gähnen durch
A nsteckung". Es mag zutreffen, daB letztere
öfters nur durch die gleichen Noxen, denen
die Beteiligten ausgesetzt sind, wie die bereits
erwähnte Luftverderbnis, nur
vorgetäuscht ist. In der Mehrzahl der
Fälle handelt es sich aber um einen
unbewuBten reflektorischen Vorgang, eine
mimische Kontagion, eine Nachahmungsautomatik.
Die Ideenassoziation kann so weit gehen, daB
schon ein Sprechen vom Gähnen, ja die bloBe
Vorstellung den Akt ausLöst.
Ist die Theorie des Gähnens trotz
verdienst voller ErschlieBungen noch immer ein
wenig aufgeheltes Gebiet und mancher
Zusammenhang ohne halbwegs befriedigende
Erklärung geblieben, so harrt nicht minder
die praktische Seite des Problems einer
annehmbaren Verwertung. Wenn berets vor
Jahrzehnten in der maBgebenden Literatur von
einer unerheblichen pathologischen bzw.
diagnostischen Bedeutung des Phänomens die
Rede ist und das Urteil in neuerer Zeit im
Grunde wiederholt wird, so liegt es mir fern,
auf dem so wenig bebauten Felde das Gegenteil zu
vertreten. Nicht zum wenigsten ist die
MiBlichkeit in dem Urnstande begrundet, daB wir
es mit einer alltäglichen physiologischen
Funktion zu tun haben, deren Abgrenzung vom
Begriff der krankhaften Störung innerhalb
weiter Grenzen nicht gewagt werden darf.
Gleichwohl möchte ich unter Bezugnahme auf
die vorstehenden Erörterungen die
Aufmerksamkeit auf eine nicht glatt zu
unterschätzende Wegweisung für einige
Krank.heitsgruppen lenken, so wenig auch dem
Symptom eine entscheidende Bedeutung
zugesprochen werden kann. Das Einsetzen
häufigen Gähnens beim
Arteriosklerotiker, der bislang die Erscheinung
nicht auffällig zur Schau getragen, muB den
Verdacht auf einen bevorstehenden Insult
nahelegen, gleichermaBen beim Epileptiker und
Opfer der Migrane unter entsprechender Bedingung
an den drohenden Anfall denken lassen.
Vielleicht gewinnt auch das Auftreten des
rechtschaffenen Gähnkrampfs fur die
Diagnose der Hysterie Bedeutung, insofern ihm
unter Umständen elne monosymptomatische
Rolle, also eines isolierten einzigen Zeichens
der Krankheit zukommt.
Die Therapie liegt auBerhalb des gestellten
Themas. Es bedarf nicht der besonderen
Ausführung, daB sie nur da, wo der Vorgang
als unliebsame Störung empfunden wird oder
gar ein schweres Leiden darstellt, in Betracht
kommt und im wesentlichen als ursächliche
in der Bekämpfung der Müdigkeit und
Langeweile sowie der Behandlung der
Grundkrankheit besteht.
Zeitschr Arztliche
Fortbildung
1925;22(20):627-628
Die
symptomatische Bedeutung des
Gähnens
Eine Bemerkung zu
dem Aufsatz von
Fürbringer
in Nr. 16 1925
dieser Zeitschrift.
Von Prof. M. NeiBer
Frankfurt a.
M.
Der Aufsatz gibt mir, obwohl ich Laie auf
diesem Gebiete bin, Veranlassung, über eine
eigene Erfahrung und ihre Deutung zu berichten,
von denen ich seit Jahrzehnten schon mit
Fachvertretern gesprochen habe, die hier zu
erwähnen aber, wie der Fürbringersche
Artikel beweist nicht überflüssig
ist.
AIs junger Mann eilte ich zu FufB von
SaasFée (1800 m) im schnellsten Tempo
nach Stalden und fuhr von da sofort nach Genf
(400 m), wo ich fast taub ankam. Es war ein
beiderseitiger seröser
PaukenhöhlenerguB entstanden, der in Berlin
unter Schwalbachs Behandlung bald
vollständig, bis auf einen leichten
Tubenkatarrh beiderseits, verschwand. Und etwas
ist seit jener Zeit zurückgeblieben: wenn
ich mich 300-400 m erhebe (oder falle), so muB
ich gähnen, etwa 3-4 mal, völlig
automatisch, und ohne daB ich in der ubergroBen
Mehrzahl der Fälle vorher daran denke, -
und mit dem Erfolge, daB ich danach viel
deutlicher den rauschenden Bach oder den
windbewegten Wald, die ruckende Zahnradbahn oder
dgl. höre, als vorher, ohne daf mir doch
vorher das abgeschwächte Hören
aufgefallen wäre.
Diese Erfahrung habe ich seit 30 Jahren
bundertfältig auf Bergtouren und kieineren
Besteigungen, im Freiballon, im Fesseiballon, im
Flugzeug, auf Bergbahnen, im Auto, auf dem
Eiffelturm bsf. gemacht, meine Angehörigen
kennen die Erscheinung an mir, - ich bin
häufig ihr MaBstab fur die
Höhendifferenz von etwa 300-400 m. Es gibt
also ein Gähnen, das augenscheinlich durch
nichts anderes aufgelöst wird als durch die
Druckdifferenz zwischen Paukenhöhle und
Umgebung, wenn die Verbindung der
Paukenhöhle und der Mundhöhle
beiderseits durch Verklebung der Tube zeitweilig
unterbrochen ist. Das aber kommt vielleicht
ofters vor, als wir glauben, und braucht nicht
auf schnellen Höhenwechsel beschränkt
zu sein, man kann sich vorstellen, daB ein
leichter chronischer Tubenkatarrh öfters zu
Verklebungen beider Tuben führt, und daB
eben durch allmähliche Resorption der Luft
in der Paukenhöhle jene
gähnnenauslösende Druckdifferenz
zustandekommt, ohne jede, Ermüdung oder
"Hunger" oder dgl.
Wenn jemand mit beiderseitiger
Tubenverklebung stundenlang nicht iBt oder
spricht, wodurch die Verklebung gesprengt werden
könnte, so könnte bei ihm jener
Zustand, vielleicht sogar gewohnheitsmäBig
zu bestimmten Tageszeiten, auftreten. Wir alle
kennen wohl solches gewolinheitsmäBiges
Gähnen.
Auch experimentell lieBe sich das bei
Menschen mit Tubenverklebungen oder auch sonst
fetstellen, diese Zeilen sollen indessen nor
eine kleine Ergänzung der interessanten
Fürbringerschen Mitteilung in dem Sinne der
Anregung sein, daB unter die Ursachen, welche
Gähnen auslösen, auch die
Druckdifferenz zwischen Paukenhöhlen und
Umgebung in Betracht zu ziehen ist,
hervorgerufen durch einen zeitweiligen
beiderseitigen TubenverschluB.