- Wenn man seine Patienten fragt, vie sie sich
morgens beim Aufstehen befinden, so ist man
erschreckt, wie häufig über Unlust,
Schlaffheit, schlechte Laune usw. geklagt wird.
Sieht man sich dagegen Tiere oder kleine Kinder
nach dem Aufwaehen an, so fällt immer
wieder ihre auBerordentliche Quicklebendigkeit
auf, ihr Tatendrang, der sich bei den Kindern in
fröhlichem Krähen äuBerst, kurzum
nur dort erlebt man rein die regenerierende
Wirkung des erquickenden Schlafes. Die
Erwachsenen wachen miBmutig und schlaff auf oder
werden durch den Wecker aus dem Bett gepeitscht,
ohne das Gefühl der Erholung und des
wirklichen Ausgeschlafensein s zu haben. Viele
Menschen kommen erst allmählich durch kalte
Waschungen and ihre alltägliche
Beschäftigung so weit in Gang, daB man sie
als wirklich wach bezeichnen könnte. Viele
andere wachen den ganzen Tag über nicht
richtig auf, haben dann vielleicht abends eine
kurze Munterkeitsperiode und schlafen die Nacht
darauf schlecht and unruhig. Auch das
Phänomen der "Unausgeschlafenheit, der
Unleidlichkeit und Knurrigkeit so vieler nach
dem Schlafen hängt mit dieser Frage
zusammen. Was ist der Grund des Unterschiedes
zwischen Tieren, Kindern und Erwachsenen? Ici
weiB nicht, ob die Physiologie viel darüber
gearbeitet hat, ich wenigstens habe nichts
finden können, was als Erklärung
befriedigt hätte. Es bleibt uns also, um
den Dingen auf den Grund zu gehen, nur die
eigene Beobachtung, eine Befragung der Natur,
wobei die sicherste Auskunft das Wohlbefinden
des eigenen Körpers gibt.
-
- Beobachten wir kleine Kinder in der Zeit
kurz vor dem Aufwachen, so fällt uns auf,
dag noch im Schlaf ein leises Spielen der
Glieder anfängt, ein zartes Durchspannen
aller Muskeln und Gelenke bei den Fingern und
Zehen anfangend, auf Arme und Beine
übergehend and schlieBlich den ganzen
Körper durchziehend. Ein paar Mal
ausgiebiges Gähnen schlieBt sich an, ein
kurzes Schütteln noch und das Kind ist voll
munter. Weckt man es dagegen barsch aus dem
Schlaf, ohne ihm Zeit zu dieser
Durchspürung zu lassen, oder unterbricht
man den Vorgang, so ist die Stimmung hin, und
Weinen and Quärrigkeit herrschen für
längere Zeit vor. Bei den Tieren ist es
ebenso. Kein Hund, der wirklich geschlafen hat,
wird sich streicheln oder mit sich spielen
lassen, bevor er mit Recken and Gähnen
fertig ist.
-
- Nun kennen ja auch wir Erwachsenen dieses
Durchrecken, wir nennen es meistens
bezeichnenderweise rekeln, aber wir erleben so
häufig, daB wir danach müder, anstatt
frischer werden. Wo liegt der Unterschied? Zum
ersten schlafen Tier und Kind anders,
nämlich entspannt, ohne dabei schlaff zu
sein. Wenn wir Erwachsenen prüfen wollen,
wie starr wir schlafen, so müssen wir uns
einmal auf eine harte Unterlage legen, um zu
merken, daB wir völlig unnachgiebig, wie
aus Holz, daliegen. Die weichen Kissen and
Matratzen im Bett nehmen uns die
Unbequemlichkeit des harten Lagers ab und
täuschen uns eine Entspannung vor, die
besten Falles gelockerter Krampf, meist aber nur
eine gestaltlose Schlaffheit ist, ohne daB die
im Laufe des Tages starr gehaltenen Muskeln sich
irgendwie entspannten. Aus diesem Grunde
schlafen die Tiere auch auf dem FuBboden gut und
wachen erholt auf, während uns das schlecht
bekommen würde. Nur drauBen im
Schützengraben haben wir es auch lernen
müssen, wir waren ja aber auch jung genug,
um uns anpassen zu können. Mit einiger
Uebung können auch wir bis ins hohe Alter
hinein, wenn keine schweren deformierenden
Krankheiten vorliegen, diese Entspannung lernen,
doch davon ein anderes Mal.
-
- Zum zweiten rekeln die Kinder sich nicht,
sondern sie "spannen sich durch", und da liegt
der Unterschied. Ob im Schlaf die
Ermüdungsstoffe des Tages in die
Lymphbahnen ausgeschieden werden, ohne
völlig abtransportiert zu werden, ob die
Blutzirkulation sich verschlechtert und wieder
aufgefrischt werden muB, ob die Gelenke
"einrosten" und wieder neu geschmiert werden
müssen, genaues ist darüber nicht zu
sagen, wohl aber zeigt der Erfolg, dag eine
grundliche wirkliche Durchspannung beim
Aufwachen nicht nur das körporliche
Wohlbefinden hebt, den Körper sofort
leistungsfähig sein läBt, sondern daB
sich auch die seelische Stimrnungslage sofort
erheblich bessert. Der Volksmund sagt vom
Gegenteil ja mit Recht: "Er ist mit dem falschen
Beine aufgestanden." Wir wissen alle, daB wir
heim Erwachen, "steif" sind, daB z. B. die
Hände feinere Arbeiten oder auch kraftige
Griffe nicht sofort ausführen können,
daB "Stockungen" vorliegen, die erst nach einer
Weile verschwinden. Nur wenige Europäer
sind noch so elastisch, daB wenige tiefe
Atemzüge genügen, um sie voll wach
sein zu lassen, höchstens rein starker
Affekt kann sie dazu bringen. Wenn man nun
sieht, wie lange Zeit ein kleines Kind braucht,
um diesen spannungsgeladenen Wachzustand zu
erreichen, nämlich von den ersten
instinktiven Regungen im Schlafe an fast eine
halbe Stunde, und damit vergleicht, wie virl
schwerer uns verkrampften Erwachsenen em solches
Durchspannen fällt, dann kommt man zu recht
langen Zeiten, die wir darauf verwenden muBten,
um uns nach der Nacht in Form zu bringen. Diese
Zeit fehlt zumeist, aber schon eine kurze
kontrollierte Durchspannung kann erheblich
nützen, und vielen meiner Patienten habe
ich mit gutem Erfolg zu dieser morgendlichen
Uebung geraten.
-
- Das Wichtigste dabei, neben der nicht zu
unterschätzenden seelischen Disposition,
der Aufstehbereitschaft, ist, daB bei diesem
Durchspannen die einzelne Bewegung, sei es die
der Finger, des Armes, des Rückens usw.,
wirklich zu Ende geführt wird, bis jenes
"Durchrieseln" der Glieder eintritt, das das
Ingangkommen von Blut- und Lymphstrom
wahrscheinlich anzeigt. Hören wir mit der
Bewegung zu früh auf, klappen wir ab und
werden gleich wieder schlaff, dann ist der
Erfolg em negativer, wir haben gerekelt, aber
uns nicht durchspannt.
-
- Wer morgens diese Uebung macht, wird bald
ein starkes Gähnbedurfnis bemerken. Auch
hier ist wieder, je nach der Art des
Gähnens, der Erfolg völlig
verschieden. Wird das Gähnen beim ersten
Reiz sofort quasi herausgezogen, d. h. wird
schlaff gegähnt, sio bringt es nicht die
gewünschte Erleichterung. Hält man
dagegen anfangs etwas zurück, läBt den
Reiz sich aufstauen und erspûrt dann, wann
der Gähnvorgang als reiner Reflex ablaufen
will, dann wird man zu einem herzhaften
Gähnen kommen, das den Körper bis in
die Zehenspitzen durchrieselt und die
Tränen in die Augen treibt. In diesem Falle
ist der Erfolg sofort spürbar, ein
ausgesprochenes Wohlgefühl tritt ein und
der Kopf wird schnell klar. Kommt das
Gähnen nicht gleich in Gang, so genügt
em passives Hängenlassen des Unterkiefers,
ein leichtes Herausfallenlassen (nicht aktives
Strecken) der Zunge und die damit verbundene
Hebung des hinteren Gaumens und des
Zäpfchens, um den Gähnreflex in Gang
zu bringen. Patienten, die über
Kopfbenommenheit, Kopfschmerzen, Müdigkeit
bei der Arbeit usw. klagen, kann man diese
einfache Uebung auch über Tag empfehlen.
Gelingt ein wirklich durchgreifendes
Gähnen, dann wird der Kopf sofort klar und
neu leistungsfähig.
-
- Allerdings wird man anfangs erstaunt sein,
welch groBen Bedarf an Entlastung Kreislauf und
Lungen sehr bald zu zeigen beginnen. Eine wahre
Gähnflut kann ausgelost werden, wobei des
Guten natürlich auch zuviel getan werden
kann. Wichtig ist immer, daB der auBerordentlich
starke Atemreiz, der durch richtiges Gähnen
hervorgerufen wird, sinngemäB ausgenutzt
wird. Es empfiehlt sich, die Uebung in frischer
Luft oder am besten am offenen Fenster
vorzunehmen und die Dauer zu begrenzen. Ein
kurzes anschlieBendes Abklopfen des Rückens
bringt die durch den Gähnrefiex angeregten
Lungenpartien noch zu einer besseren Lösung
und Weiteratmung.
-
- Für denjenigen, der genau beobachtet,
wird es erstaunlich sein, welche Mengen
übelriechenden Atems auf diese Weise
abgegast werden. Es scheint so, als ob groBe
Teile der Lunge, die sonst still lagen,
durchlüftet und gereinigt würden und
dag sich hierdurch die Hauptwirkung der Uebung
erklärt. Man kann auch vor dem
Röntgenschirm die bessere Aufhellung der
Lunge nach diesen Gähnattacken objektiv
feststellen.
-
- Ganz ähnliches geschieht beim Niesen
und Husten. Besonders der wirkliche Brusthusten
mit seiner starken Erschütterung des
Zwerchfells kann zu einer besseren Durchatmung
ausgenutzt und bald zum Abklingen gebracht
werden. Allerdings gehört dazu bereits eine
wachere Beziehung zum Atemapparat, die nicht
ohne weiteres vorausgesetzt werden darf.
-
- Wenn oben das Wort "Uebung" gebraucht wurde,
so möchte ich sogleich auf ein etwa
mögliches MiBverstandnis hinweisen. Es. ist
die bequeme Art der meisten Menschen, sich mit
einem "Rezept" zufrieden zu geben und bestimmte
Vorschriften zu befolgen, ohne im geringsten
darauf zu achten, wie sich die verschiedenen
Abläufe am eigenen Körper auswirken.
Ein Rezept zum richtigen Gähnen und damit
besseren Atems gibt es nun nicht; sondern das,
was erreicht werden soll, kommt nur in Gang,
wenn der betreffende Uebende wach hinspürt
und darauf achtet, daB die Reflexvorgänge
so ablaufen, wie der Kürper es möchte.
Denn die Natur hat immer das Bestreben zur
bestmöglichsten Leistung, wird aber durch
die verschiedenartigsten psychischen und
Gewohnheitshemmungen am freien Ablauf der
Vorgange gehindert. Als Ersatz schleicht sich
immer wieder die bequemere Anwendung von
vermeindlichen Uebungsvorschriften ein und nur
die unbestechliche Sicherheit des Eintritts
eines Lustgewinnes und eines fortdauernden
Wohlbehagens gibt den MaBstab ab für
sichere Entscheidung, ob richtig oder falsch. Es
liegt daher auch beim Arzte, daB or nicht mir
"Uebungen" vorschreibt, sondern die nur durch
eigenes Erleben zu findenden zwingenden
Beschreibungsworte beherrscht und sie dem
Patienten übermittelt. Nur wer diese
Vorgänge am eigenen Körper studiert
und erlebt hat, wird anderen klar machen
können, worum es sich im Grunde handelt.
DaB das nicht nur eine berufliche Pflicht des
Arztes sein sollte, sondern gleichzeitig seine
Gesundheit und Leistungsfähigkeit steigert,
sei nebenbei erwähnt. Je beschäftigter
und abgehetzter der Arzt selber ist, je weniger
Zeit er also für derart; anscheinend
umständliche Verordnungen hat, desto
wichtiger ist es auch für ihn, diese
natürliche Regenerationsmöglichkeit
bei sich anzuwenden, und er wird dann von seibst
dazu kommen, sie an die Patienten weiter zu
empfehlen und diese entsprechend anzuleiten.
Ganz einfach ist beides nicht, wie ich gezeigt
zu haben glaube, aber wir müssen doch
endlich dazu kommen, nicht nur über die
physiologischen Vorgänge mit der Ratio
nachzudenken, sondern sie so zu erleben, daB sie
unser ganzes Dasein beherrschen. Die
Lebensfremdheit gewisser Wissensehaft beruht ja
häufig nur darauf, daB hier über Dinge
nachgedacht (hinterhergedacht) wird, die viel
einlacher und sicherer erspürt werden
könnten, wobei sich dann, wenn das Spuren
erst da war, die Methoden zum objektiven
Nachweis von selbst einstellen würden.
-
- Vom künstlichen Kothurn dieser Art
Wissenschaft werden meine Ausführungen
sicher belächelt werden, da sie
angeblichem, subjektivem unkontrollierbarem
Gefühl das Wort reden. Dem ist aber nicht
so. Die objektive Nachprüfung der Vorgange
soll keineswegs vernachlässigt werden, nur
müBten neue Methoden gesucht werden, und
sie lassen sich nur dann finden, wenn die
genaueste Beobachtung der Vorgänge im
Selbstversuch zugrunde liegt. Sichere und
genauere MaBstäbe aber, ais die Reaktion
des wachbeobachteten Eigenkörpers
dürften sich vorerst nicht finden
lassen.
-
- So können Recken, Strecken, Gähnen
und Husten, diese alltäglichen Vorgange des
Korpers, noch sehr viel besser studiert und
ausgenützt werden, wenn wir mit ihnen an
uns selbst experimentieren, wobei
experimentieren nicht heiBen soll, daB etwas
besonderes angestellt werden müBte. Kommt
es doch nur auf eine saubere Beobachtung der
sich im Körper abspielenden Funktionen (-
in Parenthese: bei wem "spielen" die Funktionen
uberhaupt noch einigermaBen ungestört?) an,
unter allmählicher Ausschaltung der
unbewuBten Hemmungen, die ein jeder von uns den
natürlichen Abläufen entgegenstemmt.
Der Artz aber wird erstaunt sein, wie vielerlei
körperliche und nicht zuletzt auch
seelische Störungen er bei senien Patienten
beseitigen kaun, wenn er sie dazu bringt, diese
natürliche Heilkraft, dieses immanente
Regenerationsbestreben, planvoll zu fordern und
sich auswirken zu lassen.
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