- Braucht man es noch zu beschreiben, das
Gähnen (Oscitatlo oder Oscedo,
Chasmus): die langsame tiefe Inspiration mit
nachfolgender etwas kürzerer Exspiration,
das leise Gähnen lautlos, das laute mit
hörbarem Geräusch beim In- oder
Exspirieren oder bei beiden, das Ieichte mit
weit geöffneten Nasenflügeln, das
starke mit krampfhaft aufgerissenem Mund, der
Atem dabei durch die Nase bei verschlossenem
Gaumen oder bei weit offenem Gaumentor durch den
Mund eingezogen, beim stärksten noch Recken
und Dehnen der Rumpf- und Beinmuskulatur, dabei
Erheben der gebeugten Arme mit geballten
Fäusten? Und so aillbekannt diese
eigentümliche Abart des gewöhnlichen
Atmens ist, so völlig dunkel ist ihre
physiologische Entstehung.
-
- Man weiss nur: das Gähnen ist
abhängig von psychischen Zuständen,
von der Schläfrigkeit, der Langweile. Erb
nennt mit Recht, "allbekannt die intensiv
kontagiöse Wirkung von Gedanken an
Gähnen oder dem Anblick desselben."
Vielleicht ist das Gähnen abhängig vom
Füllungszustand des Magens, es scheint
zurzeit, wo die Mahlzeit erwartet oder ersehnt
wird, bei manchen Personen sich gern
einzustellen. Seine pathologische Bedeutung ist
jedenfalls eine geringe und wohl nur auf das
Gebiet der Hysterie beschränkt, wo, wie
ähnliche koordinierte Krampfformen, wie
Lach- und Weinkrämpfe, gelegentlich auch
förmliche Anfälle von Gähnen in
recht unangenehmer Weise auftreten
können.
-
- Hippokrates
scheint nach einer kurzen Bemerkung das
Gähn wohl auch als krankhaftes Symptom vor
sich gehabt zu haben, vielleicht aber in der
übertrieben hysterischen Form, denn er gibt
em Gegenmittel dagegen an, das zugleich auch
gegen das ängstliche Herumwerfen und das
Schaudern der Kranken sich wirksam erweisen
soll. Es ist dies der Trunk von gutem Wein, wie
sich aus seinen Aphorismen (VII. 55) ergibt:
(Anxietatem, oscitationem, horrorem vinum
aequali aqua temperatum solvit), wobei zu
bemerken ist, dass der zu gleichen Teilen mit
Wasser verdünnte Wein bei den Griechen an
Stärke etwa unseren gewohnlichen, guten,
puren Weinen gleichgesetzt werden darf.
-
- Ich habe das ärztliche Handwerk bel
berühmten Meistern gelernt und bin in ihrer
Werkstatt, so darf ich behaupten, nicht der
faulste Lehrbub gewesen, aber ich erinnere mich
nicht, aus ihrem Munde je etwas über das
Gähnen bei der Analyse von
Krankheitsbildern gehört zu haben. Trotadem
kommt dem Gähnen, wie ich überzeugt
bin, hier eine sehr wichtige Bedeutung zu und
zwar in prognostischer Hinsicht. Darauf bin ich
freilich nicht durch meine Lehrmeister gekommen,
noch weniger von selbst, sondern es war eine
Frau, durch die ich - vor langen Jahren schon -
darauf aufmerksam wurde, eine Frau allerdings,
deren von Haus aus ungemein klarer Blick, deren
unbestechliche Objektivität der Beobachtung
durch die nimmer rastende Sorge um ihre Kleinen,
die Angst um die erkrankten aufs äusserste
geschärft wurde. Mit einem Wort, es ist
meiner Mutter, welche die ungemein günstige
prognostische Bedeutung des Gähnens bei
akuten fieberhaften Krankheiten ganz richtig
erkannte. Sah sie, über das kleine Bettchen
gebeugt, zum ersten Male wieder Gähnen, das
behagliche Gähnen, so hielt sie die Gewalt
der Krankheit für gebrochen und mit
Recht.
-
- Ich habe, hierdurch angeregt, auf dieses
Zeichen geachtet und kann nach meiner
persönlichen Erfahrung folgendes behaupten:
Für gewöhnlich und bei Gesunden ist
das Gähnen mit dem Ausdruck eines gewissen
Behagens verbunden, auch dann wenn der Schlaf
auf körperliche Ermüdung folgt, nicht
dann, wenn Uebermüdung vorausging. Schon
Säuglinge gähnen mitunter behaglich,
wenn sie einschlafen wollen. Nur bei Ieichten
akuten Affektionen geht Gähnen dem Schlaf
vorher. Beim Ausbruch einer schweren
Infektionskrankheit verfallen die Patienten in
ihren unruhigen Fieberschlummer ohne Gähnen
und erst wenn die Entfieberung sich vollzieht
können sie unter Gähnen in Schlaf
versinken, jetzt in einen ruhigeren, tiefen,
erquickenden Schlaf. Bei Infektionen, die zum
Tode führen, bleibt das Gähnen aus,
der Todesschlaf wird nicht durch Gähnen
eingeleitet. Gar manchmal habe ich vergebens
dieses trostreiche Symptom erwartet, ersehnt;
einen Taler habe ich halb im Scherz den
Krankenschwestern versprochen für die, die
das Gähnen beim wachenden oder
halbschlumrnernden Kranken bemerken und mir
melden sllte, es blieb aus und die Genesung
auch.
-
- Schwere Gehirnkranke verfallen in tiefen
Schlaf, in Koma, in Sopor ohne vorher zu
gähnen. Der Betäubung des Sensoriums
bei Urämie, bei Coma diabeticum ist das
Gähnen fremd, ebenso den schweren
Vergiftungen mit Narkoticis. Ich erinnere mich
nicht, jemals bei einer Chloroformnarkose
Gähnen gesehen zu haben.
-
- Nach alledem halte ich mich für
berechtigt, es auszusprechen, dass
Nichtgähnen zwar natürlich nicht an
und für sich und unter allen Umständen
ein ungünstiges Symptom ist, das wäre
lächerlich, dass Gähnen aber im ganzen
als ein ausserordentlich günstiges
prognostisches Symptom angesehen werden darf, ja
man möchte versucht sein, zu behaupten,
dass man jedwede direkte Bedrohung des Lebens
ruhig ausschliessen darf, wenn man einen Kranken
gähnen sieht.
-
- Mögen andere mit grösserem
Wirkungskreis hierüber umfänglichere
Beobachtungen anstellen, als es mir möglich
war! Vermutlich wird es auch hier Ausnahmen
geben, aber "exceptio firmat regulam", und dass
es Regel ist, was ich hier behauptet habe, das
glaube ich fest. Das Gähnen ist ein Zeichen
von Langweile und kein Schwerkranker langweilt
sich.
-
- Tous
les articles en allemand sur le
bâillement
|