An
ethological interpretation of stereotypy induced
by environmental stimulus
Durch AuBenreiz
induzierte Stereotypie in ethologischer
Sicht
Beckmann H, Zimmer R
Psychiatrische Klinik und
Poliklinik der Universität München
(Direktor: Prof. Dr. H. Hippius), Munchen,
Bundesrepublik Deutschlan
Summary : Stereotyped behavior in the
schizophrenic patient is described, provoked by
yawning or fragments of this act in the
environment. It consists of elements that, in an
ethological sense are reminiscent of activities
which increase vigilance and cleanse the body.
It is suggested that yawning brings about a
certain 'mood transfer' which induces this kind
of specific stereotyped behavior. The adequacy
of an ethological interpretation of these
symptoms of disease is briefly discussed.
Zusammenfassung. Es wird stereotypes
Verhalten bei einem schizophrenen Patienten
beschrieben, das durch Gähnen oder durch
Bruchstücke dieses Vorgangs in der Umgebung
hervorgerufen wird. Es besteht aus
Bewegungselementen, die - in ethologischer
Betrachtung - an vigilanzsteïgernde
Aktivitäten sowie an Reinigungsbewegungen
erinnern. Es wird erwogen, ob es durch den
Gahnvorgang zu einer Slimmungsubertragung kommt,
die unter der Emwirkung des schizophrenen
Prozesses das zwangsahnlich empfundene
stereotype Verhalten auslöst.
Die Angemessenheit ethologischer Deutungen
für derartige Krankheitssymptome wird kurz
erörtert.
Einleitung : Unter Stereotypien
verstehen wir em weites Spektrum starr und
einförmig sich wiederholender
Bewegungsabläufe, die wahrend
verschiedenartiger Erkrankungen des
Nervensystems, aber auch bisweilen beim
Gesunden, auftreten und von einfachern
Streichen, Schaukeln, Reiben u. a. bis hin zu
differenzierten Bewegungsfoigen reichen
können.
Ploog (1964) giiedert die rnotorischen
Stereotypien in kompiexe Bewegungsweisen,
Grundbewegungen und Primitivkoordinationen und
sieht sie gegenUber der Vielfait rnoglicher
rnenschlicher Bewegungsweisen ais pars pro toto
eines aligemeinen Be wegungsdranges', die kein
dynamisches, sondern em konstantes
Verhältnis zur Umwelt und weder Leistungs-
noch Ausdruckscharakter' haben (1957).
Kretschmer (1953) prägte den Begriff
der Schabione' fur aile genormten
Bewegungsweisen, die autonom und relativ
formstarr ablaufen, gleichguitig ob sie in
normalen oder pathologischen Zusamrnenhangen
auftreten.
DerngegenUber differenziert Spoerri (1967)
in Individual-, Soziai- und Prirnitivschabionen,
wobei erstere (Stereotypien im engeren Sinne)
einen komplexen Bewegungsabiauf zeigen,
während Primitivschabionen aus einfachen
Bewegungsabiäufen bestehen. Soiche fanden
Birkmayer et ai. (1955) im Erwachen nach dem
Eiektroschock. Piiieri und Poeck (1964)
beschrieben eine Vieizahl arterhaitender und
sozialer Instinktbewegungen' ais neuroiogische
Symptorne bei cerebraiorganischen Abbauprozessen
beim Menschen.
Die Interpretation der Stereotypien bei
schizophrenen Patienten erfolgte bisher
vornehmiich in zwei Richtungen:
1. Verstehend psychologische Deutung
(Kläsi 1922; Homburger 1932). Dabei werden
stereotype Bewegungsabiaufe ais
ausdrucks-sinnhaitig oder zweckgerichtet
(Spoerri 1967) angesehen, und es wird vermutet,
daB es sich z. B. urn Abwehrbewegungen gegen
Hailuzinationen, urn wahninduzierte Zerernonien
oder anderes handeit. Die
Primitïvschablonen bieten allerdings
für soiche Deutungen wenig Ansatz und sind
daher hier auszunehrnen.
2. Ethologische Erklärungsversuche, die
schwieriger werden, je kornpiexer und
differenzierter em Bewegungsabiauf ist. Hierbei
wird im Sinne von Jackson (1884) davon
ausgegangen, daB in der Phyiogenese praformierte
Funktionsweisen sich zu komplexen
Bewegungsabiaufen zusamrnenfugen und
starnmesgeschichtlich ältere unter die
Hemmung stamrnesgeschichtiich jüngerer
Funktionen fallen. Bei verschiedenartigen
Erkrankungen des Zentrainervensystems
können demnach Funktionen einer
phyiogenetisch äiteren Organisationsstufe
durch krankhafte Enthemmung wieder zutage
treten.
Das Ziel unserer Darstellung ist die
Beschreibung und Diskussion einer Stereotypie,
die auf einern bestimrnten Aufenreiz induziert
wird und in sich gewisse Anhaltspunkte für
ethologische Deutungsversuche enthält.
Kasuistik
H.P. wurde 1950 als 3. Sohn neben den 2 und
7 Jahre alteren Brudern in der eiterlichen
Landwirtschaft geboren. Den Betrieb führte
vorwiegend die Mutter, da der Vater
nebenberuflich Viehhändier und auBerdem
körperlich behindert war. Geburt und
frühkindliche Entwickiung verliefen
unauffallig. H.P. soll sich als Knabe nicht
wesentlich von semen Geschwistern unterschieden
haben. Er wird als stifles Kind bezeichnet, das
durchschnittliche bis gute Leistungen in der
Volksschule erzieite und sich auf dem
eiterlichen Hof als wendig und geschickt erwies.
Die stifle, aber nicht unintelligente Wesensart
des Jungen wird von einem Lehrer mit den Worten:
,,Wenn's keiner weiB, weiB es der P., aber der
sagt nichts" beschrieben. Seit fruhester
Kindheit fiel eine starke Anhanglichkeit an die
Mutter auf. Eine enge Beziehung sofl ebenfalls
zum äitesten Bruder bestanden haben. Unter
dessen EinfluB begann H.P. nach AbschluB der
Volksschule eine Werkzeugmacherlehre. In semer
Freizeit bevorzugte er in erster Linie
sportliche Aktivitaten wie Schwimmen und
FuBbalispielen. Vor Ausbruch der Erkrankung
batte er an einem Englischkurs im Fernsehen
teilgenommen.
Sexuelle Aktivitäten hat H.P. weder vor
Ausbruch der Erkrankung noch spater entwickelt.
Die somatische Anamnese war unaufiallig.
Bei einem Cousin mütterlicherseits
wurde im Alter von 27 Jahren em Morbus Wilson
diagnostiziert. Die Schwester dieses Cousins war
mit 12 Jahren an "Schwarzer Gelbsucht (?)"
verstorben.
Erkrankung und Verlauf
Im 16. Lebensjahr wurden bei H.P. allmahlich
Einsilbigkeit, Ruckzugstendenzen, nachlassende
Leistung am Arbeitsplatz sowie fehlende
natürliche Bewegung beobachtet. Früher
ein aktiver FuBballspieler, blieb er nun
plotzlich aufdem Platz stehen und lief dem Ball
nicht mehr nach. Er saB viel zu Hause im dunklen
Zimmer und starrte vor sich bin, schwieg
stundenlang.
Bei der ersten stationären Untersuchung
im Max-Planck-Institut für Psychiatrie,
München, im Jahre 1966 fielen em
dysplastischer, longocephaler Schädel, eine
leichte Prognathie, gebeugte Haltung von Kopf
und Schultern sowie aligemeine Abmagerung auf.
Psychopathologisch standen Ratlosigkeit,
stumpfer Affekt, Antriebshemmung und
submutistisches Verhalten ohne Hinweise auf
produktive psychotische Symptomatik im
Vordergrund.
Diagnostisch wurde eine Schizophrenia
simplex erwogen. 1967 erneute stationäre
Aufnahme mit ahnlicher Symptomatik in einer
auswärtigen Klinik. H.P. wirkte zu diesem
Zeitpunkt äuBerlich vernachlassigt. Wegen
eines fast stuporosen Zustandes erfolgte
Sondenernahrung.
Diagnostisch wurde nun vor allem wegen der
starker im Vordergrund stehenden
Bewegungsanomalien (s. u.) em
kataton-hebephrener ProzeB erwogen. Unter
Neuroieptikagabe erfolgte ailmählich
Besserung des Zustandes. H.P. bestand nach
Entiassung eine AbschluBprüfung ais
Werkzeugmacher. Da er diesen Beruf nicht welter
ausüben wollte, nahm er eine Stelle ais
Anlernling in einer chemischen Fabrik an. 1971
wurden während der ambulanten
nervenärztlichen Betreuung erstmais
paranoide Denkinhalte in Form von
Vergiftungsideen bemerkt. 1975 erfolgte die
stationäre Aufnahme in die Psychiatrische
Universitàtsklinik Munchen, da er sich am
Arbeitsplatz uberfordert fiihite.
Psychopathologisch fieicn
Körperhalluzinationen und
Fremdbeeinflussungsideen auf. Bestimmten Zahien-
und Farbkombinationen ordnete er Bedeutungen zu.
Uberdies bestanden abstruse Vorstellungen von
einem Leben auf einer Insel mit polygamem und
homosexuellem Sexualleben in einem modern
technisierten, paradiesischen Zustand. Voile
WahngewiBheit war nicht immer mit Sicherheit zu
erkennen. Formale Denkstorungen waren nur
diskret vorhanden. Obwohi, abgesehen von der
durch die Mutter getragenen, schUtzenden
Familiensituation, sozial voiiig isoiiert
lebend, konnte er semen Arbeitsplatz unter
Wohiwolien der Firma bisher beibehalten. Bei der
letzten Untersuchung 1m FrBhjahr 1979 bestand
die Symptomatik unverandert fort.
Ergebnisse
Psychologische Testergebnisse
1m Hamburg-Wechsler-Intelligenztest (HAWIE)
erreichte H.P. einen Gesamt-IQ von 94 bei einem
Verbal-IQ von 100 und einem Handlungs-IQ von 89,
was aufeine durchschnittliche intellektuelle
Leistungsfahigkeit, aber auch einen diskreten
hirnorganischen AbbauprozeBweist. Die
konzentrative Belastung war vermindert.
Im Whitaker Index of Schizophrenic Thinking
zur Erfassung von Assoziationsstörungen lag
H.P. 4 Punkte über dem kritischen
Wert.
Laboruntersuchungen
Die labortechnischen Untersuchungen der
Körperflussigkeiten einschlieBlich
Lues-Serologie, Coeruloplasmin- und
Kupferbestimmung sowie
Schilddrüsendiagnostik waren
unauffallig.
Das im Jahr 1966 und 1975 durchgefuhrte
Luftencephalogramm sowie das Angiogramm der
HirngefaBe (1975) zeigten keine pathologischen
Befunde.
Das Elektroencephalogramm (insgesamt 8
Abteilungen) war stets abnorm. Es fanden sich
jeweils leichtere Allgemeinveranderungen und
bilaterale Storungen (in Hyperventilation
Aktivierung von bilateralen 5/s-Serien. Nach 5
min 3-4/sGruppen, nach Ende der Hyperventilation
diffuse 5-7/s-Gruppen).
Entwicklung und Verlauf der
Stereotypien
Zum Zeitpunkt des Krankheitsbeginns im Jahre
1966 fiel zunächst auf, daB H.P. sich von
Zeit zu Zeit mit dem HandrUcken über die
Lippen fuhr. Auch wurde em wurgendes Schlucken
beobachtet. 1967 trat vorubergehend em
Waschzwang auf. Danach war em Husten durch die
Nase und em ständiges Speichelabwischen am
Armel zu beobachten. Im selben Jahr wurde der
zeitliche Bezug dieser Verhaltensauffalligkeiten
zum Gähnen von Personen in Umgebung des
Patienten bemerkt. 1970 heifit es in den
NotizendesbehandelndenNervenarztes: SobaldH.P.
jemand in semer Umgebung gahnen sieht, beginnt
er durch den Mund zu atmen, führt eine Art
Mund- und Nasenspulung durch, indem er Wasser
durch Mund und Nase zieht. Nach AbschluB dieser
Spulungen kann er die vorher begonnene
Tätigkeit fortsetzen."
Ab 1971 machte H.P. bei Beobachtung von
Gähnen in semer Umgebung keine Mund- und
NasenspUlungen mehr, sondern hielt nur noch die
mit Wasser gefullte Hand vor Mund und Nase und
atmete tief durch. 1973 erfolgte Anderung der
Stereotypie in der Weise, daB er bei
beobachtetem Gahnen an seinem Hosengurtel zog
und dabei rekeinde Bewegungen durchführte.
1974 Erweiterung der auslösenden Reize:
neben Gähnen wirkten audi tiefes Atmen und
im Fernsehen beobachtetes Mundaufsperren
auslösend. Im gleichen Jahr wiederum
Anderung der Bewegungsfolge: H.P. fuhr sich mit
dem HandrUcken zunächst über den Mund,
machte dann mit beiden Händen Wisch- und
Reibebewegungen an den Augen, führte dann
mit gebeugten Armen reibende Bewegungen an den
Oberarmen aus (Abb. 1-9). Bei der
stationären Behandlung im Jahre 1978 und
der ambulanten Nachuntersuchung 1979 war dieser
Bewegungsablauf noch zu beobachten. H.P. war in
der Lage, die Bewegungsfolge auf unbestimmte
Zeit hinauszuschieben, konnte sie aber nicht
ganz unterdrUcken. Das Verschieben löste
stärkere Unruhe und Angst in ihm aus.
Nach Angaben der Mutter ist H.P. nach
Beobachtung von Gähnen in semer Umgebung
unruhig und unkonzentriert, nach DurchfUhrung
der Bewegungsfolge aber gelost. Aus den Angaben
von H.P. geht hervor, daB er das Gähnen als
eine drohende Gefahr von aul3en ansieht. Er
meint, die Gähnenden wollen ihm seine
Gedanken wegnehmen. Em anderes Mal erklärt
er, die Bewegungen führe er durch, damit
die ,,eigenen Anschauungen Gültigkeit"
bekämen. Die Bewegungen maclit er angeblich
ungern, bekomme aber dadurch ,,Kraft". Der
Fehler liege semer Ansicht nach bei dem, der
gähne.
Der Versuch eines
verhaltenstlierapeutisclien Therapieprogramms
wurde wegen Verstarkung der Symptomatik
abgebrochen. Auch die Behandlung mit
Neuroleptika brachte keine wesentliche
Erleichterung. Eine über Jahre
durcigefUührte Penicillamin-Therapie war
oline erkennbaren Wert.
Der Ablauf und die Art der
Bewegungsstereotypien im Beobachtungszeitraum
von 12 Jahren sind nicht konstant. In
chronologischer Reihenfolge werden folgende
Bewegungsarten beobachtet:
1. wurgendes Schlucken und Wishbewegungen
über den Mund, 2. kurzfristiger
Waschzwang,
3. Husten durch die Nase und
Speichelabwischen am Armel,
4. Wasserspulung durch Mund und Nase, spater
wird nur noch die wassergefüllte Hand vor
den Mund gehalten und tief eingeatmet,
5. Ziehen am HosengÛrtel und rekeinde
Korperbewegungen,
6. H.P. fahrt mit dem Handrücken
über den Mund, reibt Augen und
Oberarme.
Diskussion
Trotz der leicht abnormen EEG-Befunde und
des diskreten Hinweises auf einen
hirnorganiscien AbbauprozeB im HAWIE ist unter
Gesamtwürdigung von Anamnese und
psychopathologischem Befund am Vorliegen einer
schizophrenen Erkrankung mit chronischem Verlauf
nicht zu zweifeln. Die bestehende Integration in
der Familie und die Fortsetzung des
Arbeitsverhältnisses, wenn auch in der
Rolle eines verschrobenen Sonderlings, erscheint
bemerkenswert, widerspricht aber nicht der
Diagnose.
Die anfanglich gestellte Diagnose einer
Schizophrenia simplex wurde in den letzten
Jahren nicht beibehalten, sondern es wurde eher
an das Vorliegen eines schizophrenen Defektes
gedacht. Das Krankheitsbild paBt unseres
Erachtens gut zu der Beschreibung der
Manirierten Katatonie' von Leonhard (1957).
Bei der beschriebenen motorischen
Stereotypie kann die auslösende Situation
über einen längeren Zeitraum genau
definiert werden. Sie besteht in der Wahrnehmung
eines Gähnvorgangs in der Umgebung. In
späteren Stadien der Erkrankung sind aber
auch Teilvorgange des Gähnens, wie tiefes
Einatmen, Fuhren der Hand zum Mund oder em
offener Mund im Fernsehen induzierend. Der
zeitliche Zusammenhang zwischen auslosendem Reiz
und Bewegungsstereotypie ist nicht von
Krankheitsbeginn an sicher belegt, so daB es
möglich bleibt, daB diese zunachst
umgebungsunabhangig aufgetreten ist.
Die einzelnen Bewegungsstereotypien
persistieren in unveränderter Form jeweils
l-2 Jahre. Die Frequenz pro Tag ist schwankend,
sie hängt einerseits vom Angebot der
Gähnvorgange in der Umgebung ab,
andererseits offenbar von einer sich
ändernden Reaktionsbereitschaft auf seiten
des Patienten. Während so H.P. meist nur
auf offensichtliches, unverhohlenes Gähnen
seine Stereotypie ablaufen lassen muB, genugen
bisweilen einzelne Elemente des
Gähnvorgangs, um den Bewegungsablauf zu
induzieren.
Eine Abgrenzung derartiger Stereotypien
gegenüber Zwangshandiungen hat Feer (1973)
versucht und betont, daB letztere einer bisher
nicht näher verständiichen Storung der
eigenen Person entsprechen, Stereotypien aber
dem Patienten von auBen aufgedrangt werden. Wir
haben allerdings in der Klinik nicht haufig
Hinweise für diese Annahme gewinnen
können.
Leonhard (1970) sieht in den manirierten
Stereotypien einen Ausfall der Wilienskraft der
Abschaltung mit einer Unfähigkeit zur
EntschiuBbildung. Damit postuliert er - siehe
auch Bochnik und Richtberg (1980) -
ähnliche psychologische Mechanismen wie
für die Zwangskrankheit, die er haufig am
Anfang einer maniriert-katatonen Psychose oder
auch als Verdünnungsform in der Sippe der
Erkrankten findet. Bei Fortschreiten des
kataton-schizophrenen Prozesses mit volligem
Ausfall der EntschluBbildung werden nach dieser
Auffassung aus den Zwangshandlungen
Automatismen, die nicht mehr willkürlich
aufgegeben werden können.
Betrachtet man die beschriebenen
Bewegungsabiaufe unter ethologischen
Gesichtspunkten, so faut auf, daB diese
vorwiegend Bruchstücke
aktivitätsvorbereitender MaBnahmen und
Reinigungsbewegungen darstellen, wie sie auch im
Tierreich als genetisch fixierte und tradierte
Strukturen im Sinne von Trieb- und
Instinkthandlungen vorkommen.
Die Besonderheit der vorliegenden
Stereotypie besteht in ihrer Bindung an das
Gähnen oder an Eiemente dieses Vorgangs in
der Umgebung. Hierbei ist daran zu erinnern, daB
bestimmte Instinktbewegungen die angeborenen
Auslösemechanismen des Partners ansprechen,
also sozial ,,ansteckend" wirken, indem sie
gleichsam durch ,,Stimmungsubertragung" zu
ähnlichen Verhaitensweisen bei Artgenossen
fuhren. Auch das Gähnen, das unter
Wirbeitieren sehr verbreitet ist, gehort zu
dieser Art von Instinktbewegungen (Ploog et al.
1963). Selbach und Selbach (1953) haben das
Gähnen als Teil eines Rekelsyndroms
beschrieben und gefolgert, daB dieses immer dann
auftrete, wenn die Erregbarkeit des Atemzentrums
vermindert ist und mit Hilfe vermehrter Bildung
zentralaktivierenden Kohlendioxyds auf eine
höhere Leistungsstufe gebracht werden
soll.
Vor diesem Hintergrund ware nun zu
erwägen, ob nicht eine solche, durch das
Gähnen hervorgerufene
Stimmungsübertragung auch bei unserem
Patienten Trieb- oder Instinktpartlale von
Bewegungsmustern, die der
Aktivitätsvorbereitung und der Korperpflege
zugeordnet sind, aktiviert werden. Das Rekeln
und die Augenwischbewegungen können so als
Bewegungen verstanden werden, die der Schlaf-
und Müdigkeitsvertreibung sowie der
Vigilanzerhohung dienen.
Wischen Uber den Mund, Händewaschen,
Wasserspülung durch Mund und Nase sind
Korperpflegebewegungen im eigentlichen Sinne.
Man wird aber auch an solche erinnert, wenn H.P.
sich mit dem Handrücken uber den Mund
fährt und die AuBenseite der Oberarme
alternlerend reibt.
Eibl-Eibesfeldt (1957) entnehmen wir, daB
für die Korperpflegebewegungen beim Sauger
Vorder- und Hinterextremitäten, Lippe und
Zunge verwendet werden. Vorderpfoten bzw.
Handbewegungen werden zum Uberstreichen,
Durchkammen, Anfeuchten der Haare und dem
Wischen unbehaarter Stehen verwandt. Bei den
Nagern werden die Pfoten in der letzten Phase
des Vorgangs mit einer Zungendrehbewegung
gesaubert und mit Speichel benetzt. Das Kratzen,
das meist alternierend durchgeführt wird,
wird mit den Hinterpfoten und bei
höheren
Prirnaten mit den Händen durchgefuhrt.
Diese Bewegungsablaufe sind
Reinigungsmechanismen fur das Haarkieid
(,,Kornfortbewegungen").
Wenn H.P. das Gähnen ais angstauslosend
eriebt und glaubt, die Gähnenden wollten
ihm seine Gedanken wegnehmen, da sie anderer
Ansicht seien als er, so ist anzunehmen, daB die
Angst eher durch die Zwangsausiosung entsteht,
während die Interpretation dem
Kausalbedürfnis des Patienten entspricht.
Die Durchfuhrung der spannungsverzehrenden
Handlung ais Stereotypic, die nach dynamischen
Gesetzen zur Abnahrne der vorhandenen Erregung
führt, eriebt er als befreiend und
starkend.
Es scheint hier etwas anderes vorzuiiegen
als das in der Ethoiogie bekannte Phänornen
der Ubersprungshandiung (Tinbergen 1940), das
bei gleichzeitiger Aktivierung zweier
widerstreitender Triebe auftreten kann. Hierbei
handelt es sich um meist unvolikommene
Intentionsbewegungen oder Bruchstücke
derselben. So kommt es bei bestimrnten
Vogelarten vor, daB sie im Widerstreit von
Aggression und Fiucht plotzlich ihr Gefieder
putzen, Nestmaterial rupfen oder
Schlafsteilungen einnehmen. Beim Menschen wurde
von Bilz (1941) das Veriegenheitskratzen als
Ubersprungsbewegung interpretiert. Seiss (1965)
deutete das Wischen, Tasten, Brauen- und
Haarstreichen bei öffentlich Vortragenden
ebenfalls so.
Aus der experimentellen Psychoseforschung
ist bekannt, daB zentrai erregende Pharmaka wie
Amphetamin, Apomorphin u. a. beim Menschen und
bei Versuchstieren Storungen der soziaien
Interaktion, des Schlafverhaltens, der Stimmung
und des Antriebs hervorrufen. Beim Menschen sind
Stereotypien und paranoid-halluzinatorische
Psychosen (Connell 1958) unter Weckamineinnahme
ebenso beschrieben wie Korperpflegebewegungen,
kataleptische Starre, Kratz-, Kiefer- und
Zungenbewegungen (Ellinwood et al. 1973). Auf
die Ahnlichkeit zwischen Weckamin-Psychosen und
paranoid-halluzinatorischen Psychosen ist
verschiedentlich hingewiesen worden (Beckmann
1978). Es ist denkbar, daB die für einige
Formen der Schizophrenic evidente
zentrainervöse Erregung die
Willenskräfte der Abschaltung und der
EntschluBbildung Uberflutet und sich die
überschussige Spannung in phylogenetisch
alte Instinktbewegungen entladt.
DaB gerade diese für die
Spannungsentladung bereitliegen, könnte auf
der in den Elektroencephaiogrammen und der
psychologischen Testung erwiesenen diskreten
organischen Hirnschadigung beruhen, die die
sonst unter der Hemmung jüngerer Zentren
liegenden Sequenzen von Instinktbewegungen
entzugelt hat.
Das Unverstandnis des Patienten selbst fur
diese Stereotypien sowie deren erfolglose
Erklarungsversuche aus der aktuellen Situation
oder vor dem lebensgeschichtlichen Hintergrund
unterstreichen schlieBlich die Vermutung, daB
die ethologische Beobachtungsweise der
Ansätze für das Verständnis
dieser so befremdlichen Krankheitssymptome
bietet als die verstehend-psychologische
Deutung.