- Im Gegensatz zum Sodbrennen ist das
Gähnen eine geradezu physiologisehe
Erscheinung, die bei jedem Menschen in jedem
Lebensalter vorkommt; ganzlicher Ausfall scheint
höchst selten zu sein; ein derartiger
sicher beobachteter Fall ist nicht bekannt. Das
Gähnen kann aber pathologisch werden, d. h.
sich so stark häufen, daB wahre
Gähnkrämpfe entstehen.
-
- Wie sehr man von der physiologischen Natur
des Gähnens uberzeugt ist, kann mail schon
daraus entnehmen, daB Geigel
(Wurzburg) vor vielen Jahren den Satz
ausgesprochen hat: "in Schwerkranker gähnt
nicht, und wenn er wieder gähnt, so ist die
Gefahr voruber." Insoweit es sich um akute
Erkrankungen, allerdings mit AusschluB derer des
Zentralnervensystems, handeit, dürfte der
Satz auch seine Richtigkeit haben.
-
- Bisher ist das Gähnen in der Literatur
nur recht stiefmütterlich behandeit worden;
nur Nervenärzten verdanken wir
ausführlichere Mitteilungen über das
Gähnen bei Gehirnkrankheiten.
-
- Unter Gähnen versteht man em
langgezogenes, tiefes, unter sukzesiver
Aufbietung zahlreicher Inspirationsmuskeln
erfolgendes, zuweilen seufzendes Einatmen bei
weit geoffnetem Munde sowie offenem Gaumentor
und offener Glottis, während die
Exspiration kürzer ist. Beide sind von
einer langgezogenen, gedehnten,
eigentümlichen LautäuBerung begleitet.
Das Gähnen ist unwillkürlich, wirkt
ansteckend, kann aber auch willkürlich
nachgeahmt werden; unwillkürliches
Gähnen ist nur schwer, wenn überhaupt
zu unterdrücken; besonders kräftiges
kann von einer leichten Tränenabsonderung
begleitet sein; dabei besteht aber em
Lustgefühl. Physiologisch wird das
Gähnen, wie man im allgemeinen annimmt,
durch Schlaflosigkeit, Hunger, Abspannung und
Langeweile hervorgerufen, wenn geistige Reize
fehlen. Hunger und Langeweile sind nahe
Verwandte. Beim menschlichen Säugling ist
das Gähnen schon am fünften Lebenstag
beobachtet worden; ich selbst habe es bei meiner
jüngsten Enkein schon 30 Stunden nach der
Geburt gesehen.
-
- Mit dem Gãhnen ist auch vielfach das
Sichstrecken verbunden. Das Gähnen kommt
nicht bloB beim Menschen vor, sondern auch beim
Tier, und zwar nicht bloB bei Saugetieren,
sondern auch bei Amphibien und, wenn man das
Strecken ais dazugehörig rechnet, auch bel
Vogeln. Diese letzteren spreizen und strecken
die Flügel; Hunde und Katzen gähnen,
strecken auch die Hinterbeine dabei aus.
Schnabelbewegungen machen auch Schildkroten und
Krokodile; bei Kroten und Frosehen beobachtet
man ein Dehnen und Sichstrecken der Hinterbeine.
Pferde strecken den ganzen Körper; ein
Seelöwe am Lande zeigte plötzlich
Spreizen der Brust- und Schwanzflossen. Also bis
weit in die Tierreihe hinein ist das Gähnen
physiologisch.
- Eine ausführlichere Abhandlung
über das Gähnen verdanken wir
Lewy, der auBer den
schon genannten körperlichen Zuständen
organische Läsionen des
Zentralnervensystems (Apoplexie, Epilepsie,
Läsion des Kleinhirns, dann organische
Erkrankungen, die das Gehirn nur funktionell
alterieren) als Ursache anfuhrt und das
Gähnen als Symptom bei Psychopathen und bei
Hysterischen angibt. Als Krise kommt
Gähnkrampf bei Tabes vor ; bei Epilepise
kann Gähnen vielleicht als Aura auftreten.
Nach Hauptmann
scheinen nur hoherstehende Säugetiere
regeirechtes, wirkliches Gähnen zu zeigen;
nach seiner Meinung muB also wohl eine enge
Beziehung des Gähnens zu apperzeptiver
Gehirntätigkeit bestehen. Beim
physiologischen Gähnen sollen durch
kräftige Innervation die peripheren,
motorischen Neurone der Muskeln frisch geladen
werden; dadurch erhöht sich der Tonus,
während vorher Hypotonie bestand.
Anämie und Zirkulationsstorungen des
Gehirns sollen das Gähnen begunstigen; man
konnte also annehmen, daB im Zustande der
Ermudung und des mangelnden Interesses das
Gehirn schlechter durchblutet wird, als wenn der
Geist frisch arbeitet. Bei vielen Mensehen
beobachtet man Gähnen als Ausdruck des
Hungers. Ganz merkwurdig ist die Tatsache, daB
beim Gähnen gelahmte Glieder mitbewegt
werden. Es ist noch nicht ganz sicher
festgestellt, ob für das Gähnen ein
Zentrum vorhanden ist. Das vegetative
Nervensystem hat ein Zentrum im Corpus striatum,
und man glaubt annehmen zu dürfen, daB dort
auch das Gähnzentrum seinen Sitz hat.
Trifft das zu, dann ist auch das pathologische
Gähnen bei Verdauungsstörungen, wie
ich es vielfach beobachten konnte, einer
Erklarung zuganglich. Eine groBe Bedeutung wird
dabei den Bakterientoxinen zukommen; aber auch
Storungen im Abbau der Nahrungsmittel
können vielleicht eine Rolle spielen.
-
- Ich hätte nicht daran gedacht, mich
eingehender mit dem Gähnen zu befassen,
wenn ich nicht durch eine eigene hochst
merkwurdige Erkrankung mit nächtlichen,
sehr bedenklich erscheinenden Anfällen von
Lungenodem, die jedesmal am Abend vorher mit
Gahnkrämpfen eingeieitet wurden, dazu
veranlaBt worden wäre.
-
- Seit Jahren schon habe ich bei der Aufnahme
der Anamnese Magen-Darm-Kranker stets nach
Gähnen gefragt und bekam recht oft die
Antwort: sehr häufig. Ich konnte
beobachten, daB mit dem Besserwerden des
Zustandes auch das Gähnen nachlieB und
wieder nur physiologisch auftrat. Es muBte also
wohl ein Zusammenhang zwischen der
Verdauungsstörung und dem gesteigerten
Gähnen vorhanden sein, und es lag nahe
anzunehmen, daB der Weg, auf dem dieser
merkwurdige Reflex ausgelost wird, das
vegetative Nervensystem, der Sympathikus sein
muB dessen eine Quelle, wie erwähnt, das
Corpus striatum (Gähnzentrum) ist.
-
- Hier möchte ich die Beobachtung von
Hönek einschalten, der bei
Bauchoperationen, bei denen der Darm gezerrt
wurde, stridoröses Atmen mit massenhafter
Schleimabsonderung auftreten sah, das sofort
wieder verschwand, wenn der Darm in Ruhe
gelassen wurde.
-
- Aus einer Zusammenstellung aus etwa 100
Krankengeschichten ergab sich, daB vermehrtes
Gähnen und Gähnkrainpf bei allen
möglichen Funktionsstorungen des Magens
vorkommt, sowohl bei Hyperchlorhydrie wie bei
Achylie, bei An- und Subazidität, ebenso
bei greifbaren, also organischen Veranderungen
der Magenschleimhaut. Da ist doch wohl der
SchluB erlaubt, daB alle diese Befunde keinen
unmittelbaren Zusammenhang mit dem Gähnen
haben konnen.
-
- Anders lautet das Ergebnis, wenn man die
Darmtätigkeit berüksichtigt. Unter 78
verschiedenen Fallen von
Verdauungsstörungen, bei denen mehr weniger
stark vermehrtes Gähnen angegeben ist, war
53 mal Stuhl und Gasabgang mangelhaft;
Gasbeschwerden allein bestanden in 33 Fallen.
Wenn man bedenkt, daB gar viele Kranke über
ihre Stuhlverhältnisse und über
Gasabgang schlecht unterrichtet sind, bezuglich
dieser wichtigen Funktionen eine auffallende
Bescheidenheit an den Tag legen, namentlich das
weibliche Geschlecht, und erst nach langerer
Beobachtung erkennen, daB ihre ursprunglichen
Angaben in dieser Hinsicht unrichtig waren, so
dürfte in Wirklichkeit das
Prozentverhältnis noch viel groBer
sein.
-
- Bei 41 Fällen ist noch bemerkt,
"nervöser Einschlag" oder besonders starke
allgemeine Nervosität. Man konnte also
leicht auf den Gedanken kommen, daB das
vermehrte Gähnen einfach nervös sei.
Nun gibt es aber wenig Magen- und Darmkranke,
die nicht mit der Zeit nervös werden. Eine
der haufigsten Erscheinungen der chronischen
Erkrankungen des Verdauungskanals ist die mehr
minder starke Behiträchtigung der
seelischen Verfassung. Ich halte es nach meinen
Beobachtungen für ausgeschlossen, daB diese
Nervosität die Ursache des Gähnens
darstellt, bin vielmehr der Uberzeugung, daB
mangelhaf ter Stuhl und namentlich mangelhafter
Gasabgang bei starker Gasentwieklung die Ursache
abgibt. AuBerordentliche Vermehrung der
gasbildenden Bakterien, mit Zersetzungen und
Fäulnis des Dickdarminhaltes (bei
unzweckmaBiger Ernahrung) müssen dafür
verantwortlich gernacht werden. Ich glaube also
annehmen zu dürfen, daB Bakterientoxine,
auf deren Bedeutung bei Sympathikusstorungen
auch Glaser hingewiesen hat, die letzte Ursache
so vieler sogenannter nervöser
Erscheinungen, die wir bei den Darmstorungen
beobachten, und auch des Gähnens sind.
Dafür spricht auch die Tatsache, daB mit
dem Besserwerden der Darmfunktion namentlich mit
dem Aufhören der übermäBigen
Gasentwicklung und dem besseren Abgang der Gase
das Gähnen verschwindet bzw. nur mehr in
physiologischer Breite auftritt.
-
- Ist meine Auffassung richtig, dann ist damit
auch zugleich der Weg gezeigt, den wir gehen
müssen, um das übermäBige
Gähnen und den Gähnkrampf bei
Verdauungsstorungen zu beseitigen; andererseits
glaube ich nachgewiesen zu haben, daB dieses
Symptom mit groBer Wahrscheinlichkeit auf den
Sitz des Leidens hindeutet und somit auch
für die Diagnose verwandt werden kann.
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