Yawning
and stroke
Ein 30 jahriger Patient mit vorderern
Ponsghorn wurde vollstandig tetraplegisch mit
zusätzhch schlaffer Parese aller von den
kaudalen Hirnnerven innervierten Muskeln, womit
die Kriterien des locked-in Syndroms
erfüllt waren. Der Patient konnte den
Unterkiefer willkürhch weder äffnen
noch schheissen, wurde aber mehrmals beim
Gähnen beobachtet, was die Vermutung
erhärtet, dass die Gähnmotivation aus
der Medulla oblongata, am wahrscheinhchsten aus
dern schlafinduzierenden System des
Raphe-Kerngebietes stammt und sich direkt auf
die kaudalen Hirnnervenkerne projiziert.
A patient with ponsghorna got completely
tetraplegic and plegic in all muscles innervated
by the caudal brainstem nerves (locked-in
syndrome). He could not open or close the mouth,
but he was able to yawn. It is concluded that
the motivation of yawning stems from the sleep
inducing system in the region of the
raphe-nuclei and is projected directly to the
nuclei of the caudal brainstem nerves.
Dass die Motivation für
Gähnverhalten vom Stammhirn ausgehen muss,
am ehesten von der Medulla oblongata, haben
schon Gamper
(1926), Catel (1930) und Heusner
(1946) an Hand von Hirnmissbildungen postuhert.
Andere Autoren (Mayer 1921, Sicard 1921,
Barbizet
1958) beobachteten gehäuftes Gähnen
bei Patienten mit Stainnihirlesionen, gesetzt
durch die Encephahtis lethargica. Hess gelang es
1928, Gähnen und Einschlafen mittels
elektrischer Reizung der interlaminären
Substanz des Thalamus zu induzieren,
während später Wilson (1940)
Gähnen bei periventriculären und
Penfield
(1954) bei diencephalen epileptischen
Anfällen beschrieben. Inzwischen sind bei
der Erforschung von schlafinduzierenden neuralen
Systemen zu den thalamischen (Hess 1944),
supraoptischen (Nauta 1946) und pontinen (Jouvet
1965) auch bulbäre im Gebiet der
Raphe-Kerne (Jouvet 1967) hinzugekommen, von
denen aus über serotonerge Synapsen
Gähn- und Schlafverhalten provoziert werden
konnte.
lm vorhegenden Fall durchtrennte ein Ponsghom
die motorischen Verbindungen zwischen Grosshirn
und Medulla oblongata vohständig, wodurch
die Gesichts-, Kiefer-, Rumpf- und
Extremitätenmuskulatur plegisch wurde. Es
entstand ein tumorbedingtes locked-in- Syndrom,
wie dies von Cherington (1976) beschrieben
wurde. Bei unserern Fall war Gähnen noch
möghch. Es hegt daher die Annahme nahe,
dass das Gähnen von der Medulla oblongata
respektive dern Gebiet der Raphe-Kerne aus
motiviert wurde.
Kasuistik : Bei einem 30 jährigen
Portugiesen traten innert Tagen frontale und
rechtsseitige Kopfschmerzen zusammen mit einer
Abduzensparese rechts auf, eine Woche
später gefolgt von einem spastischen
Hemisyndrom hnks, eine weitere Woche später
von Dysarthrie und Schluckstörungen.
Deswegen Einweisung in die Neurologische
Universitätskhnik Bern, wo sich innert
Tagen eine Tetraplegie und ein Ausfall
sämthcher motorischer Hirnnerven kaudal der
Oculomotorius- und Trochlearisnerven einstellte.
Der Patient wurde stuhl- und urininkontinent. Er
bheb bei vollem Bewusstsein, beantwortete Fragen
durch Augenrollen, atmete suffizient, musste
aber durch eine Magensonde ernährt werden.
Berührungsreize wurden nur auf der hnken
Körperseite leicht vermindert, jedoch von
überall her als unangenehm empfunden.
Obwohl der Patient nicht in der Lage war, die
Unterkiefer und Gesichtsmuskulatur
wrillküdich zu betätigen, fiel auf,
dass er nach dem Erwachen ausgiebig gähnte.
Der Zahnreihenabstand erreichte dabei mindestens
2cm. Die Lidspalten verengten sich, die Zunge
Fiel nicht in den Rachen zurück,
Lautäusserungen wurden aber nie
gehört. Der Patient verstand die
Aufforderung, Gähnen willkürhch
auszuführen, konnte ihr aber keine Folge
leisten.
Das schon zu Beginn der Hospitahsation
durchgeFührte Pneumoencephalogramm zeigte
eine Auftreibung der Pons, die jedoch erst post
mortem als solche allgemein anerkannt wurde. 2
Monate nach Krankheitsbezinn starb der Patient
an Atem- und KreislaufVersagen. Die Hirnsektion
legte ein Ponsghom frei, das den vorderen
Abschnitt der Pons und damit die
Pyramidenbahnfasern voflständig
zerstört hatte. Nach kaudal stiess er bis
auf Höhe des Kleinhirn-Brückenwinkels
vor.
Diskussion : Am Gahnen beteihgen sich
initial die Inspirationsmuskeln, die
Mundöffner, die Gesichtsund die
Zungenmuskulatur, terminal die Mundschliesser.
Die Innervation dazu stammt aus dem 5., 7. und
11. Hirnnerven sowie dem N. phrenicus und den
Interkostalnerven. Da beim Patienten jedoch
s~mthche motorischen Verbindungen zwischen den
peripheren Motoneuronen und dem Grossirn auf
Höhe des vorderen Ponsabschnittes durch das
Ghom unterbrochen waren, liegt die Vermutung
nahe, dass das noch als einziges
Verhaltenselement auftretende Gähnen von
einem neuralen System unterhalb des vorderen
Ponsabschnittes induziert werden musste.
Andernfalls müssten Efferenzen über
den Haubenbereich verlaufen sein, was insofern
erstaunhch wäre, als in diesem Bereich die
Afferenzen aus der Peripherie, die Formatio
reticularis und der Tractus spino-cerebellaris
ventralis durchziehen, aber keine efferenten
Bahnen. Zudem musste es sich um Bahnen handeln,
die eine einzige Verhaltensmöghchkeit auf
die letztinstanzhchen Motoneurone projizieren
würden, was für die Effektorsysteme
emmahg wäre. Die efferenten Systeme
verlaufen ni der Pons, die vollständig vom
Tumor zerstört worden ist. Entsprechend
konnte der Patient keinerlei Bewegungen mehr in
Muskeln ausführen, deren Motoneurone
kaudalwärts der Pons lagen. Proximal davon
befanden sich die Oculornotorius- und
Trochleariskerne, über die der Patient noch
seine Augen bewegen korinte.
Schon aus dieser anatomischen Sicht erscheint
es am wahrscheinhchsten, de die Gihnmotivation
im kaudal der Läsion gelegenen
Stammhirnabschnitt entstanden sein rnuiSte, wo
durch elektrische Reizversuche im Gebiete der
RapheKerne ein schlafinduzierendes System
gefunden wurde (Jouvet 1967). Es gibt auch ein
pontines Schlafsystern, dessen Reizung aber zu
den Traumschlafcharakteristiken führt und
nicht über das Dösen zum Ruheschlaf,
wie das beim normalen Einschlafen der Fall ist
(Jouvet 1960).
Wefl es dem Patienten nicht möghch war,
wfllenthch oder mittels der Imitierbarkeit
(Moore 1942, Eibl-Eibesfeldt 1967) Gähnen
zu reproduzieren, gewinnt die Vermutung
zusätzhch an Wahrscheinhchkeit, de die
Gä-hnmotivation in dem
ruheschlafinduzierenden Raphe-KernsysLein
entsLanden ilst und sich direkt auf die
entsprechenden noch intakten Kerne der kaudalen
Hirnner-ven projiziert hat. Diese Beobachtung
stù=t mit dem Gähnvermögen von
menschhchen Mittelhirnwesen überein, wie es
Gamper (1926) und Catel (1930) beschrieben
haben. Demnach viürden die diencephalen
Reizversuche von Hess (1944), respektive die
periventriculären und diencephalen
epfleptischen Entladungen über die
pyramidalen und extrapyramidalen Bahnen das
Raphe-Kernsystem aktiviert und nicht direkt die
Motivation erzeugt haben.
Aspektrneig verhef das Gähnen wie bei
Normalpersonen innerhalb von 5-7 Sekunden. Ein
begleitendes Sichrecken, wie es bei
Hemiplegikern in den gelähmten
Extremitäten schon beobachtet wurde
(Dumpert 1921, Lewy 1921, Heusner 1946) oder
eine Phonation traten nie auf. Phonation und
Sichrecken sind demnach Verhaltenselemente, die
auf rostralwärts der Medulla oblongata
hegende Strukturen, jedoch ebenfalls nicht auf
die Pyramidenbahn angewiesen sind.
Weinen, das ebenso in der Medulla oblongata
inotiviert wird, wurde hier nie bcobachtet. Das
Gähnen bheb das einzige Verhaltenselornent,
dessen Motivation über die k-audalen
Hirniierveii und die zervikalen und thorakilen
Vorderhommotoneurone in die entsprcchenden
l'Auskeln hinaus projiziert wurde. Es
dürfte sich demnach um eine der
à1testen, nicht auf den Kortex
angewiesenen, spontan auftretenden
Verhaltensweisen handeln, die mo-hcherweise aus
dem Kieinenstadium starnint (Kuhn 1952). Sie
korinte darnals die Aufgabe besessen haben, den
zweiten Kiemenbogen, der jetzt der Eustachschen
Rähre entspricht, zu spreizen. Für
diese Interpretation spricht die Tatsache, daf~
bei cerebraler Hypoxie die Gähamotivation
aktiviert wird (Nash 1942). die früher zu
vermehrter Kiemendurchströmung
gefùhrt haben dürfte. Inzwischen
würde sie, wie viele alte Verhaltensweisen
einen Bedeutungswandel durchgemacht haben in dem
Sinne, daf~ sie jetzt als Auchauslöser die
Schläfrigkeit innerhalb einer Gruppe
koordiniert. Sie wäre deninach zu einem
physiologischen ScWafmittel (Waldvogel 1945)
geworden. das bei Langeweile nicht immer
ewünscht ist und wegen der
aggressionsauslösenden Bedeutung des
Mundaufsperrens erst noch Kumpanaggression
provoziert. Wohl dar-um hält sich die
uralte Sitte, das Gähnen hinter der vor den
Mund gehaltenen Hand zu verstecken.